Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701.

Bild:
<< vorherige Seite

Das fünffte Capitel.
zeit übrig lassen/ verursachet/ daß jetzo auch einige wochen nach dem em-
pfang habe müssen vorbey streichen lassen. Die sache selbs belangend/ sehe
ich daß der Herr schwager sonderliche confidenz gegen meine wenige person
träget/ ob möchte ich eine sonderbahre gabe von GOtt empfangen haben/ be-
trübten und geängsteten gewissen mit kräfftigem trost an die hand zugehen
und sie auffzurichten. Nun ob ich wohl hierinnen vor andern etwas sonderes
empfangen zuhaben nicht/ wol aber meiner eigenen schwachheit mir bewust
bin/ so bin ich doch so schuldig als willig/ das pfand so mir mein GOtt verlie-
hen/ und was durch seine gnade in eigener erfahrung auch an mir selbst er-
lernet/ zu angefochtener Christlicher mitbrüder trost anzuwenden. Daher
ich auch nicht in abrede bin/ daß ich vor andern meinen amts-verrichtun-
gen sonderlich gern mit angefochtenen umgehe und in solcher schul mit und
an andern lerne. Jedoch sind die meisten mit denen ich bißher zuthun gehabt ha-
be/ vielmehr mit andern und/ wie ich erachte schwehrern arten der anfechtung
heimgesuchet gewesen/ doch habe auch vor etzlichen jahren einige conferen-
z
en gehabt mit einem seiner sünden und angst des gewissens wegen schwehr
angefochtenen. Was dann nun den von dem Herrn schwager mir eröffneten
seinen betrübten stand belanget/ so ist mir zuförderst nicht wissend/ ob die
natürliche constitution, temperament und insgesamt jetziger zustand des
leibes etwas zu demselben contribuire/ in dem mir solche nicht zur gnüge
bekant/ und aber auch in dergleichen eigenlichen geistlichen anfechtungen
worinnen zwahr die seele der vornehmlich leidende theil ist/ nichts destoweniger
die leibes-beschaffenheit vieles auff ein und andere seite thun kan. Dann zum
exempel/ wo dieselbe constitution vor sich selbs ad melancholiam incli-
ni
ret oder aus einigem affectu hypochondriaco dahin degenerirt/ so thun
die aus solcher natürlichen leibes-beschaffenheit entstehende bangigkeiten/
welche offters fast keine ursach wissen/ sehr vieles zur beunruhigung des gemü-
thes/ indem sie theils hindern/ daß man den der anfechtung entgegen halten-
den trost nicht so wol oder je so empfindlich und vergnüglich fassen kann/
theils dem menschen selbs unvermerckter weise anleitung geben/ über dinge/
da es ohne noth ist/ zu scrupuliren Da wir gemeiniglich finden werden/
gleichwie andere/ die ihnen sonsten gewisse weltliche und zeitliche dinge/ damit
sie offters umgegangen/ sonderlich haben angelegen lassen seyn/ wo sie mit

eini-

Das fuͤnffte Capitel.
zeit uͤbrig laſſen/ verurſachet/ daß jetzo auch einige wochen nach dem em-
pfang habe muͤſſen vorbey ſtreichen laſſen. Die ſache ſelbs belangend/ ſehe
ich daß der Herr ſchwager ſonderliche confidenz gegen meine wenige perſon
traͤget/ ob moͤchte ich eine ſonderbahre gabe von GOtt empfangen haben/ be-
truͤbten und geaͤngſteten gewiſſen mit kraͤfftigem troſt an die hand zugehen
und ſie auffzurichten. Nun ob ich wohl hierinnen vor andern etwas ſonderes
empfangen zuhaben nicht/ wol aber meiner eigenen ſchwachheit mir bewuſt
bin/ ſo bin ich doch ſo ſchuldig als willig/ das pfand ſo mir mein GOtt verlie-
hen/ und was durch ſeine gnade in eigener erfahrung auch an mir ſelbſt er-
lernet/ zu angefochtener Chriſtlicher mitbruͤder troſt anzuwenden. Daher
ich auch nicht in abrede bin/ daß ich vor andern meinen amts-verrichtun-
gen ſonderlich gern mit angefochtenen umgehe und in ſolcher ſchul mit und
an andern lerne. Jedoch ſind die meiſten mit denen ich bißher zuthun gehabt ha-
be/ vielmehr mit andern und/ wie ich erachte ſchwehrern arten der anfechtung
heimgeſuchet geweſen/ doch habe auch vor etzlichen jahren einige conferen-
z
en gehabt mit einem ſeiner ſuͤnden und angſt des gewiſſens wegen ſchwehr
angefochtenen. Was dann nun den von dem Herrn ſchwager mir eroͤffneten
ſeinen betruͤbten ſtand belanget/ ſo iſt mir zufoͤrderſt nicht wiſſend/ ob die
natuͤrliche conſtitution, temperament und insgeſamt jetziger zuſtand des
leibes etwas zu demſelben contribuire/ in dem mir ſolche nicht zur gnuͤge
bekant/ und aber auch in dergleichen eigenlichen geiſtlichen anfechtungen
woriñen zwahr die ſeele der vornehmlich leidende theil iſt/ nichts deſtoweniger
die leibes-beſchaffenheit vieles auff ein und andere ſeite thun kan. Dann zum
exempel/ wo dieſelbe conſtitution vor ſich ſelbs ad melancholiam incli-
ni
ret oder aus einigem affectu hypochondriaco dahin degenerirt/ ſo thun
die aus ſolcher natuͤrlichen leibes-beſchaffenheit entſtehende bangigkeiten/
welche offters faſt keine urſach wiſſen/ ſehr vieles zur beunruhigung des gemuͤ-
thes/ indem ſie theils hindern/ daß man den der anfechtung entgegen halten-
den troſt nicht ſo wol oder je ſo empfindlich und vergnuͤglich faſſen kann/
theils dem menſchen ſelbs unvermerckter weiſe anleitung geben/ uͤber dinge/
da es ohne noth iſt/ zu ſcrupuliren Da wir gemeiniglich finden werden/
gleichwie andere/ die ihnen ſonſten gewiſſe weltliche und zeitliche dinge/ damit
ſie offters umgegangen/ ſonderlich haben angelegen laſſen ſeyn/ wo ſie mit

eini-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0724" n="716"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das fu&#x0364;nffte Capitel.</hi></fw><lb/>
zeit u&#x0364;brig la&#x017F;&#x017F;en/ verur&#x017F;achet/ daß jetzo auch einige wochen nach dem em-<lb/>
pfang habe mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en vorbey &#x017F;treichen la&#x017F;&#x017F;en. Die &#x017F;ache &#x017F;elbs belangend/ &#x017F;ehe<lb/>
ich daß der Herr &#x017F;chwager &#x017F;onderliche <hi rendition="#aq">confidenz</hi> gegen meine wenige per&#x017F;on<lb/>
tra&#x0364;get/ ob mo&#x0364;chte ich eine &#x017F;onderbahre gabe von GOtt empfangen haben/ be-<lb/>
tru&#x0364;bten und gea&#x0364;ng&#x017F;teten gewi&#x017F;&#x017F;en mit kra&#x0364;fftigem tro&#x017F;t an die hand zugehen<lb/>
und &#x017F;ie auffzurichten. Nun ob ich wohl hierinnen vor andern etwas &#x017F;onderes<lb/>
empfangen zuhaben nicht/ wol aber meiner eigenen &#x017F;chwachheit mir bewu&#x017F;t<lb/>
bin/ &#x017F;o bin ich doch &#x017F;o &#x017F;chuldig als willig/ das pfand &#x017F;o mir mein GOtt verlie-<lb/>
hen/ und was durch &#x017F;eine gnade in eigener erfahrung auch an mir &#x017F;elb&#x017F;t er-<lb/>
lernet/ zu angefochtener Chri&#x017F;tlicher mitbru&#x0364;der tro&#x017F;t anzuwenden. Daher<lb/>
ich auch nicht in abrede bin/ daß ich vor andern meinen amts-verrichtun-<lb/>
gen &#x017F;onderlich gern mit angefochtenen umgehe und in &#x017F;olcher &#x017F;chul mit und<lb/>
an andern lerne. Jedoch &#x017F;ind die mei&#x017F;ten mit denen ich bißher zuthun gehabt ha-<lb/>
be/ vielmehr mit andern und/ wie ich erachte &#x017F;chwehrern arten der anfechtung<lb/>
heimge&#x017F;uchet gewe&#x017F;en/ doch habe auch vor etzlichen jahren einige <hi rendition="#aq">conferen-<lb/>
z</hi>en gehabt mit einem &#x017F;einer &#x017F;u&#x0364;nden und ang&#x017F;t des gewi&#x017F;&#x017F;ens wegen &#x017F;chwehr<lb/>
angefochtenen. Was dann nun den von dem Herrn &#x017F;chwager mir ero&#x0364;ffneten<lb/>
&#x017F;einen betru&#x0364;bten &#x017F;tand belanget/ &#x017F;o i&#x017F;t mir zufo&#x0364;rder&#x017F;t nicht wi&#x017F;&#x017F;end/ ob die<lb/>
natu&#x0364;rliche <hi rendition="#aq">con&#x017F;titution, temperament</hi> und insge&#x017F;amt jetziger zu&#x017F;tand des<lb/>
leibes etwas zu dem&#x017F;elben <hi rendition="#aq">contribuir</hi>e/ in dem mir &#x017F;olche nicht zur gnu&#x0364;ge<lb/>
bekant/ und aber auch in dergleichen eigenlichen gei&#x017F;tlichen anfechtungen<lb/>
worin&#x0303;en zwahr die &#x017F;eele der vornehmlich leidende theil i&#x017F;t/ nichts de&#x017F;toweniger<lb/>
die leibes-be&#x017F;chaffenheit vieles auff ein und andere &#x017F;eite thun kan. Dann zum<lb/>
exempel/ wo die&#x017F;elbe <hi rendition="#aq">con&#x017F;titution</hi> vor &#x017F;ich &#x017F;elbs <hi rendition="#aq">ad melancholiam incli-<lb/>
ni</hi>ret oder aus einigem <hi rendition="#aq">affectu hypochondriaco</hi> dahin <hi rendition="#aq">degeneri</hi>rt/ &#x017F;o thun<lb/>
die aus &#x017F;olcher natu&#x0364;rlichen leibes-be&#x017F;chaffenheit ent&#x017F;tehende bangigkeiten/<lb/>
welche offters fa&#x017F;t keine ur&#x017F;ach wi&#x017F;&#x017F;en/ &#x017F;ehr vieles zur beunruhigung des gemu&#x0364;-<lb/>
thes/ indem &#x017F;ie theils hindern/ daß man den der anfechtung entgegen halten-<lb/>
den tro&#x017F;t nicht &#x017F;o wol oder je &#x017F;o empfindlich und vergnu&#x0364;glich fa&#x017F;&#x017F;en kann/<lb/>
theils dem men&#x017F;chen &#x017F;elbs unvermerckter wei&#x017F;e anleitung geben/ u&#x0364;ber dinge/<lb/>
da es ohne noth i&#x017F;t/ zu <hi rendition="#aq">&#x017F;crupulir</hi>en Da wir gemeiniglich finden werden/<lb/>
gleichwie andere/ die ihnen &#x017F;on&#x017F;ten gewi&#x017F;&#x017F;e weltliche und zeitliche dinge/ damit<lb/>
&#x017F;ie offters umgegangen/ &#x017F;onderlich haben angelegen la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn/ wo &#x017F;ie mit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">eini-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[716/0724] Das fuͤnffte Capitel. zeit uͤbrig laſſen/ verurſachet/ daß jetzo auch einige wochen nach dem em- pfang habe muͤſſen vorbey ſtreichen laſſen. Die ſache ſelbs belangend/ ſehe ich daß der Herr ſchwager ſonderliche confidenz gegen meine wenige perſon traͤget/ ob moͤchte ich eine ſonderbahre gabe von GOtt empfangen haben/ be- truͤbten und geaͤngſteten gewiſſen mit kraͤfftigem troſt an die hand zugehen und ſie auffzurichten. Nun ob ich wohl hierinnen vor andern etwas ſonderes empfangen zuhaben nicht/ wol aber meiner eigenen ſchwachheit mir bewuſt bin/ ſo bin ich doch ſo ſchuldig als willig/ das pfand ſo mir mein GOtt verlie- hen/ und was durch ſeine gnade in eigener erfahrung auch an mir ſelbſt er- lernet/ zu angefochtener Chriſtlicher mitbruͤder troſt anzuwenden. Daher ich auch nicht in abrede bin/ daß ich vor andern meinen amts-verrichtun- gen ſonderlich gern mit angefochtenen umgehe und in ſolcher ſchul mit und an andern lerne. Jedoch ſind die meiſten mit denen ich bißher zuthun gehabt ha- be/ vielmehr mit andern und/ wie ich erachte ſchwehrern arten der anfechtung heimgeſuchet geweſen/ doch habe auch vor etzlichen jahren einige conferen- zen gehabt mit einem ſeiner ſuͤnden und angſt des gewiſſens wegen ſchwehr angefochtenen. Was dann nun den von dem Herrn ſchwager mir eroͤffneten ſeinen betruͤbten ſtand belanget/ ſo iſt mir zufoͤrderſt nicht wiſſend/ ob die natuͤrliche conſtitution, temperament und insgeſamt jetziger zuſtand des leibes etwas zu demſelben contribuire/ in dem mir ſolche nicht zur gnuͤge bekant/ und aber auch in dergleichen eigenlichen geiſtlichen anfechtungen woriñen zwahr die ſeele der vornehmlich leidende theil iſt/ nichts deſtoweniger die leibes-beſchaffenheit vieles auff ein und andere ſeite thun kan. Dann zum exempel/ wo dieſelbe conſtitution vor ſich ſelbs ad melancholiam incli- niret oder aus einigem affectu hypochondriaco dahin degenerirt/ ſo thun die aus ſolcher natuͤrlichen leibes-beſchaffenheit entſtehende bangigkeiten/ welche offters faſt keine urſach wiſſen/ ſehr vieles zur beunruhigung des gemuͤ- thes/ indem ſie theils hindern/ daß man den der anfechtung entgegen halten- den troſt nicht ſo wol oder je ſo empfindlich und vergnuͤglich faſſen kann/ theils dem menſchen ſelbs unvermerckter weiſe anleitung geben/ uͤber dinge/ da es ohne noth iſt/ zu ſcrupuliren Da wir gemeiniglich finden werden/ gleichwie andere/ die ihnen ſonſten gewiſſe weltliche und zeitliche dinge/ damit ſie offters umgegangen/ ſonderlich haben angelegen laſſen ſeyn/ wo ſie mit eini-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/724
Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701, S. 716. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/724>, abgerufen am 22.11.2024.