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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701.

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ARTIC. II. SECTIO XXVII.
sen/ und zu sich allein ziehen will. Ob nun solches die art des HErrn mit
ihm umzugehen gewesen seye/ wird er verhoffentlich selbs bißher besser erkant
haben. Auffs wenigste lässet der HErr den seinigen niemal nichts begeg-
nen/ ohne seinen weisen und gütigen rath/ ja auch ihre versäumnüssen müssen
durch seine gnade ordenlicher weise ein anlaß werden/ dadurch er bey ihnen et-
was gutes ausrichtet. Was aber anlangt die wehmüthige klage über die
fühlung seiner schwachheit/ und zweiffelhaffte gedancken wegen des beywoh-
nenden glaubens/ trage ich zwahr so fern christliches mitleiden mit solchem
elend/ welches ich wol verstehe/ wie schwehr und empfindlich es seye/ und also
es nicht geringe achte/ indessen ist mir doch über ihn nicht bange dabey/ als der
ich an eigenem und andern mehr exempeln erfahren/ wie viel gütiger rath
GOttes in solcher verhängnüß seye: Wie nemlich die seelen/ welche er in so-
thanes schweiß-bad geführet werden lässet/ wahrhafftig in der rechten schulen
sind der gründlichen erkäntnüß ihrer selbs und ihrer sündlichen nichtigkeit/
der verleugnung und absterbung der welt/ des hasses gegen die sünde/ der
hertzlichen demuth gegen GOTT und den nechsten/ gegen welche alle man sich
sehr unwürdig hält/ des gebets zu GOTT/ welches so viel auffrichtiger vor
GOTT ist/ so viel ein inniglicheres verlangen und ängstlichere begierde nach
seiner gnade unauffhörlich in dem hertzen ist/ das doch vor unruhe kaum ein
andächtiges gebet herausbringen/ oder die gedancken zu der ordnung eines
formlichen gebets bringen kan/ und daher sich eben darüber ängstet/ daß es
meinet/ es bete nicht/ und könne nicht beten/ der vorsichtigkeit in seinem gan-
tzen leben/ um nicht mit willen zu sündigen/ und also einer wachsamkeit über
die seele/ ja auch des glaubens selbs. Dann gewißlich der wahre krafft-glau-
be wächset und wurtzelt am tieffsten in sich/ wo man sich fast unglaubig achtet.
Nur bitte ich/ er überlasse sich seinem GOTT/ seye mit gegenwärtiger gnade
zu frieden/ bete zwahr/ ob ihm GOTT sein angesicht wiederum klährer zeigen
und seine gnade in sich empfinden lassen wolle/ aber immer mit wahrhafftiger
ausnahm seines willens/ und mit zufriedenheit/ auch in diesem stand gern aus-
zuharren/ ob ihn der HErr auch immer darinne lassen wolte; wie denn zur
ruhe der seelen in aller solcher unruhe nichts noch kräfftiger ist/ als die in der
forcht GOttes gefaßte resolution, man wolle sich an göttlicher gnade genü-
gen lassen/ und gesinnet seyn/ wie Paulus/ da ihm solches von oben herab an-
gezeiget/ und hingegen die wegnehmung seines pfahls austrücklich abgeschla-
gen war worden. Jn solchem stande und zufriedenheit kan es ihm wahrhaff-
tig an gnädiger erhaltung nicht mangeln/ und stehet er in der that sicherer/ als
die meiste bey aller empfindlichkeit. So dann lasse er sich dieses nimmermehr
aus dem hertzen nehmen/ daß uns GOTT nicht auf unser fühlen/ sondern
aufden glauben und hoffnung/ wo nichts zu hoffen ist/ oder gefühlet wird/

sondern
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ARTIC. II. SECTIO XXVII.
ſen/ und zu ſich allein ziehen will. Ob nun ſolches die art des HErrn mit
ihm umzugehen geweſen ſeye/ wird er verhoffentlich ſelbs bißher beſſer erkant
haben. Auffs wenigſte laͤſſet der HErr den ſeinigen niemal nichts begeg-
nen/ ohne ſeinen weiſen und guͤtigen rath/ ja auch ihre verſaͤumnuͤſſen muͤſſen
durch ſeine gnade ordenlicher weiſe ein anlaß werden/ dadurch er bey ihnen et-
was gutes ausrichtet. Was aber anlangt die wehmuͤthige klage uͤber die
fuͤhlung ſeiner ſchwachheit/ und zweiffelhaffte gedancken wegen des beywoh-
nenden glaubens/ trage ich zwahr ſo fern chriſtliches mitleiden mit ſolchem
elend/ welches ich wol verſtehe/ wie ſchwehr und empfindlich es ſeye/ und alſo
es nicht geringe achte/ indeſſen iſt mir doch uͤber ihn nicht bange dabey/ als der
ich an eigenem und andern mehr exempeln erfahren/ wie viel guͤtiger rath
GOttes in ſolcher verhaͤngnuͤß ſeye: Wie nemlich die ſeelen/ welche er in ſo-
thanes ſchweiß-bad gefuͤhret werden laͤſſet/ wahrhafftig in der rechten ſchulen
ſind der gruͤndlichen erkaͤntnuͤß ihrer ſelbs und ihrer ſuͤndlichen nichtigkeit/
der verleugnung und abſterbung der welt/ des haſſes gegen die ſuͤnde/ der
hertzlichen demuth gegen GOTT und den nechſten/ gegen welche alle man ſich
ſehr unwuͤrdig haͤlt/ des gebets zu GOTT/ welches ſo viel auffrichtiger vor
GOTT iſt/ ſo viel ein inniglicheres verlangen und aͤngſtlichere begierde nach
ſeiner gnade unauffhoͤrlich in dem hertzen iſt/ das doch vor unruhe kaum ein
andaͤchtiges gebet herausbringen/ oder die gedancken zu der ordnung eines
formlichen gebets bringen kan/ und daher ſich eben daruͤber aͤngſtet/ daß es
meinet/ es bete nicht/ und koͤnne nicht beten/ der vorſichtigkeit in ſeinem gan-
tzen leben/ um nicht mit willen zu ſuͤndigen/ und alſo einer wachſamkeit uͤber
die ſeele/ ja auch des glaubens ſelbs. Dann gewißlich der wahre krafft-glau-
be waͤchſet und wurtzelt am tieffſten in ſich/ wo man ſich faſt unglaubig achtet.
Nur bitte ich/ er uͤberlaſſe ſich ſeinem GOTT/ ſeye mit gegenwaͤrtiger gnade
zu frieden/ bete zwahr/ ob ihm GOTT ſein angeſicht wiederum klaͤhrer zeigen
und ſeine gnade in ſich empfinden laſſen wolle/ aber immer mit wahrhafftiger
ausnahm ſeines willens/ und mit zufriedenheit/ auch in dieſem ſtand gern aus-
zuharren/ ob ihn der HErr auch immer darinne laſſen wolte; wie denn zur
ruhe der ſeelen in aller ſolcher unruhe nichts noch kraͤfftiger iſt/ als die in der
forcht GOttes gefaßte reſolution, man wolle ſich an goͤttlicher gnade genuͤ-
gen laſſen/ und geſinnet ſeyn/ wie Paulus/ da ihm ſolches von oben herab an-
gezeiget/ und hingegen die wegnehmung ſeines pfahls austruͤcklich abgeſchla-
gen war worden. Jn ſolchem ſtande und zufriedenheit kan es ihm wahrhaff-
tig an gnaͤdiger erhaltung nicht mangeln/ und ſtehet er in der that ſicherer/ als
die meiſte bey aller empfindlichkeit. So dann laſſe er ſich dieſes nimmermehr
aus dem hertzen nehmen/ daß uns GOTT nicht auf unſer fuͤhlen/ ſondern
aufden glauben und hoffnung/ wo nichts zu hoffen iſt/ oder gefuͤhlet wird/

ſondern
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[821/0829] ARTIC. II. SECTIO XXVII. ſen/ und zu ſich allein ziehen will. Ob nun ſolches die art des HErrn mit ihm umzugehen geweſen ſeye/ wird er verhoffentlich ſelbs bißher beſſer erkant haben. Auffs wenigſte laͤſſet der HErr den ſeinigen niemal nichts begeg- nen/ ohne ſeinen weiſen und guͤtigen rath/ ja auch ihre verſaͤumnuͤſſen muͤſſen durch ſeine gnade ordenlicher weiſe ein anlaß werden/ dadurch er bey ihnen et- was gutes ausrichtet. Was aber anlangt die wehmuͤthige klage uͤber die fuͤhlung ſeiner ſchwachheit/ und zweiffelhaffte gedancken wegen des beywoh- nenden glaubens/ trage ich zwahr ſo fern chriſtliches mitleiden mit ſolchem elend/ welches ich wol verſtehe/ wie ſchwehr und empfindlich es ſeye/ und alſo es nicht geringe achte/ indeſſen iſt mir doch uͤber ihn nicht bange dabey/ als der ich an eigenem und andern mehr exempeln erfahren/ wie viel guͤtiger rath GOttes in ſolcher verhaͤngnuͤß ſeye: Wie nemlich die ſeelen/ welche er in ſo- thanes ſchweiß-bad gefuͤhret werden laͤſſet/ wahrhafftig in der rechten ſchulen ſind der gruͤndlichen erkaͤntnuͤß ihrer ſelbs und ihrer ſuͤndlichen nichtigkeit/ der verleugnung und abſterbung der welt/ des haſſes gegen die ſuͤnde/ der hertzlichen demuth gegen GOTT und den nechſten/ gegen welche alle man ſich ſehr unwuͤrdig haͤlt/ des gebets zu GOTT/ welches ſo viel auffrichtiger vor GOTT iſt/ ſo viel ein inniglicheres verlangen und aͤngſtlichere begierde nach ſeiner gnade unauffhoͤrlich in dem hertzen iſt/ das doch vor unruhe kaum ein andaͤchtiges gebet herausbringen/ oder die gedancken zu der ordnung eines formlichen gebets bringen kan/ und daher ſich eben daruͤber aͤngſtet/ daß es meinet/ es bete nicht/ und koͤnne nicht beten/ der vorſichtigkeit in ſeinem gan- tzen leben/ um nicht mit willen zu ſuͤndigen/ und alſo einer wachſamkeit uͤber die ſeele/ ja auch des glaubens ſelbs. Dann gewißlich der wahre krafft-glau- be waͤchſet und wurtzelt am tieffſten in ſich/ wo man ſich faſt unglaubig achtet. Nur bitte ich/ er uͤberlaſſe ſich ſeinem GOTT/ ſeye mit gegenwaͤrtiger gnade zu frieden/ bete zwahr/ ob ihm GOTT ſein angeſicht wiederum klaͤhrer zeigen und ſeine gnade in ſich empfinden laſſen wolle/ aber immer mit wahrhafftiger ausnahm ſeines willens/ und mit zufriedenheit/ auch in dieſem ſtand gern aus- zuharren/ ob ihn der HErr auch immer darinne laſſen wolte; wie denn zur ruhe der ſeelen in aller ſolcher unruhe nichts noch kraͤfftiger iſt/ als die in der forcht GOttes gefaßte reſolution, man wolle ſich an goͤttlicher gnade genuͤ- gen laſſen/ und geſinnet ſeyn/ wie Paulus/ da ihm ſolches von oben herab an- gezeiget/ und hingegen die wegnehmung ſeines pfahls austruͤcklich abgeſchla- gen war worden. Jn ſolchem ſtande und zufriedenheit kan es ihm wahrhaff- tig an gnaͤdiger erhaltung nicht mangeln/ und ſtehet er in der that ſicherer/ als die meiſte bey aller empfindlichkeit. So dann laſſe er ſich dieſes nimmermehr aus dem hertzen nehmen/ daß uns GOTT nicht auf unſer fuͤhlen/ ſondern aufden glauben und hoffnung/ wo nichts zu hoffen iſt/ oder gefuͤhlet wird/ ſondern L l l l l 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 2. Halle (Saale), 1701, S. 821. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken02_1701/829>, abgerufen am 22.11.2024.