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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
dere bewandnüß aber auch in negotio justificationis, und wie er das heyl in
CHRJSTO ergreifft/ wo zu nicht so viel articul gehören/ daß die gantze kette der
lehr müste mit eingeschlossen werden: Daher wo bey einem menschen der wahre
glaube/ das ist/ die göttliche würckung des hertzlichen vertrauens auff GOTTes
gnade in CHRJSTJ verdienst/ damit der seiner sünde wegen betrübte sünder
sich lauterlich und allein GOttes barmhertzigkeit überlässet/ und die gnaden verheis-
sung in unserm Heyland annimt/ sich findet/ da ist die seligkeit/ ob wohl in andern
articulen irrthüme seyn mögen/ entweder die an sich gering sind/ und das werck der
seligkeit nichts berühren/ oder ob sie per consequentiam den glauben umstossen
möchten/ das hertz gleichwohl durch göttliche gnade verwahret wird/ daß bey ihnen
durch solches der glaube nicht würcklich umgestossen wird: Wie die pest an sich
selbst ein tödlich gifft ist/ aber bey einigen/ durch die gute natur oder gebrauchte
artzney oder sonsten/ das hertz so verwahret wird/ daß ihnen solches gifft nicht tödt-
lich seyn muß. Damit mache ich die irrthüme und dero gefahr nicht gering/ ich
preise aber die göttliche gnade welche ihrer viele in solcher gefahr noch erhält. Wor
aber auff solches sich verlassende muthwillig irren/ oder doch sich vor den irrthümen/
bey besser habender gelegenheit die wahrheit zu erkennen/ nicht mit fleiß vorsehen wol-
te/ ein solcher würde die straff seiner sünde tragen/ und zeigte eben damit/ daß auch
sein glaube nicht rechtschaffen gewesen/ der die göttliche güter so gering schätzet/ daß
er sie sorgfältiger untersuchung der wahrheit nicht würdig achtet. Wie dann nun
bey unserer Lutherischen kirchen/ und dero reiner lehr/ auch derjenigen viele wahr-
hafftig verdamt werden/ die alle solche articul ohne untermischten irrthum gehalten
und behauptet haben/ weil es ihnen an dem glauben gemangelt hat/ als zu dem sol-
che lehr nicht genug ist/ also kan es seyn und geschiehet bey irrglaubigen (wie wir sie
von der lehr nennen) offters/ daß einfältige hertzen/ die die wahrheit der schlechter
dings zur seligkeit nöthigsten articul/ mit dem der seligmachende glaube unmittel-
bahr zuthun hat/ und dieselbe ergreiffet/ in göttlicher gnade erkennen/ und von der
gnade ihres GOttes ihr anerbottenes heil annehmen in einem heiligen und göttli-
chen vertrauen/ wahrhafftig gerecht und selig sind: und ihnen GOTT die gnade
thut/ daß sie entweder vor den haupt irrthumen ihrer religion (wie absonderlich bey
den Reformirten mit dem absoluto decreto geschehen kan) gar verwahret wer-
den/ und davon weder wissen noch glauben. Daher ob ich schon mit solchen men-
schen keine kir[ch]liche gemeinschafft/ in communion, öffentlichem GOttes dienst
und dergleichen halte (dann wie ich in diesem und jenem subjecto mich des glau-
bens versehen/ bey einigen gar versichern kan/ so kan ich doch ihre gemeinde durch
aus nicht billichen/ oder in völliger gemeinschafft deroselben stehen) ob ich auch wohl
einem solchen menschen eine weitere und reinere erkäntnüß wünsche/ und wo ich
ihn dazu bringen kan/ mich dahin bemühe/ so kan ich doch sein gutes an ihm rühmen/
lieben und in eine genauere freundschafft mit ihm tretten/ als ich ins gemein mit

jeg-

Das ſechſte Capitel.
dere bewandnuͤß aber auch in negotio juſtificationis, und wie er das heyl in
CHRJSTO ergreifft/ wo zu nicht ſo viel articul gehoͤren/ daß die gantze kette der
lehr muͤſte mit eingeſchloſſen werden: Daher wo bey einem menſchen der wahre
glaube/ das iſt/ die goͤttliche wuͤrckung des hertzlichen vertrauens auff GOTTes
gnade in CHRJSTJ verdienſt/ damit der ſeiner ſuͤnde wegen betruͤbte ſuͤnder
ſich lauterlich und allein GOttes barmhertzigkeit uͤberlaͤſſet/ und die gnaden verheiſ-
ſung in unſerm Heyland annimt/ ſich findet/ da iſt die ſeligkeit/ ob wohl in andern
articulen irrthuͤme ſeyn moͤgen/ entweder die an ſich gering ſind/ und das werck der
ſeligkeit nichts beruͤhren/ oder ob ſie per conſequentiam den glauben umſtoſſen
moͤchten/ das hertz gleichwohl durch goͤttliche gnade verwahret wird/ daß bey ihnen
durch ſolches der glaube nicht wuͤrcklich umgeſtoſſen wird: Wie die peſt an ſich
ſelbſt ein toͤdlich gifft iſt/ aber bey einigen/ durch die gute natur oder gebrauchte
artzney oder ſonſten/ das hertz ſo verwahret wird/ daß ihnen ſolches gifft nicht toͤdt-
lich ſeyn muß. Damit mache ich die irrthuͤme und dero gefahr nicht gering/ ich
preiſe aber die goͤttliche gnade welche ihrer viele in ſolcher gefahr noch erhaͤlt. Wor
aber auff ſolches ſich verlaſſende muthwillig irren/ oder doch ſich vor den irrthuͤmen/
bey beſſer habender gelegenheit die wahrheit zu eꝛkeñen/ nicht mit fleiß vorſehen wol-
te/ ein ſolcher wuͤrde die ſtraff ſeiner ſuͤnde tragen/ und zeigte eben damit/ daß auch
ſein glaube nicht rechtſchaffen geweſen/ der die goͤttliche guͤter ſo gering ſchaͤtzet/ daß
er ſie ſorgfaͤltiger unterſuchung der wahrheit nicht wuͤrdig achtet. Wie dann nun
bey unſerer Lutheriſchen kirchen/ und dero reiner lehr/ auch derjenigen viele wahr-
hafftig verdamt werden/ die alle ſolche articul ohne untermiſchten irrthum gehalten
und behauptet haben/ weil es ihnen an dem glauben gemangelt hat/ als zu dem ſol-
che lehr nicht genug iſt/ alſo kan es ſeyn und geſchiehet bey irrglaubigen (wie wir ſie
von der lehr nennen) offters/ daß einfaͤltige hertzen/ die die wahrheit der ſchlechter
dings zur ſeligkeit noͤthigſten articul/ mit dem der ſeligmachende glaube unmittel-
bahr zuthun hat/ und dieſelbe ergreiffet/ in goͤttlicher gnade erkennen/ und von der
gnade ihres GOttes ihr anerbottenes heil annehmen in einem heiligen und goͤttli-
chen vertrauen/ wahrhafftig gerecht und ſelig ſind: und ihnen GOTT die gnade
thut/ daß ſie entweder vor den haupt irrthumen ihrer religion (wie abſonderlich bey
den Reformirten mit dem abſoluto decreto geſchehen kan) gar verwahret wer-
den/ und davon weder wiſſen noch glauben. Daher ob ich ſchon mit ſolchen men-
ſchen keine kir[ch]liche gemeinſchafft/ in communion, oͤffentlichem GOttes dienſt
und dergleichen halte (dann wie ich in dieſem und jenem ſubjecto mich des glau-
bens verſehen/ bey einigen gar verſichern kan/ ſo kan ich doch ihre gemeinde durch
aus nicht billichen/ oder in voͤlliger gemeinſchafft deroſelben ſtehen) ob ich auch wohl
einem ſolchen menſchen eine weitere und reinere erkaͤntnuͤß wuͤnſche/ und wo ich
ihn dazu bringen kan/ mich dahin bemuͤhe/ ſo kan ich doch ſein gutes an ihm ruͤhmen/
lieben und in eine genauere freundſchafft mit ihm tretten/ als ich ins gemein mit

jeg-
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[202/0220] Das ſechſte Capitel. dere bewandnuͤß aber auch in negotio juſtificationis, und wie er das heyl in CHRJSTO ergreifft/ wo zu nicht ſo viel articul gehoͤren/ daß die gantze kette der lehr muͤſte mit eingeſchloſſen werden: Daher wo bey einem menſchen der wahre glaube/ das iſt/ die goͤttliche wuͤrckung des hertzlichen vertrauens auff GOTTes gnade in CHRJSTJ verdienſt/ damit der ſeiner ſuͤnde wegen betruͤbte ſuͤnder ſich lauterlich und allein GOttes barmhertzigkeit uͤberlaͤſſet/ und die gnaden verheiſ- ſung in unſerm Heyland annimt/ ſich findet/ da iſt die ſeligkeit/ ob wohl in andern articulen irrthuͤme ſeyn moͤgen/ entweder die an ſich gering ſind/ und das werck der ſeligkeit nichts beruͤhren/ oder ob ſie per conſequentiam den glauben umſtoſſen moͤchten/ das hertz gleichwohl durch goͤttliche gnade verwahret wird/ daß bey ihnen durch ſolches der glaube nicht wuͤrcklich umgeſtoſſen wird: Wie die peſt an ſich ſelbſt ein toͤdlich gifft iſt/ aber bey einigen/ durch die gute natur oder gebrauchte artzney oder ſonſten/ das hertz ſo verwahret wird/ daß ihnen ſolches gifft nicht toͤdt- lich ſeyn muß. Damit mache ich die irrthuͤme und dero gefahr nicht gering/ ich preiſe aber die goͤttliche gnade welche ihrer viele in ſolcher gefahr noch erhaͤlt. Wor aber auff ſolches ſich verlaſſende muthwillig irren/ oder doch ſich vor den irrthuͤmen/ bey beſſer habender gelegenheit die wahrheit zu eꝛkeñen/ nicht mit fleiß vorſehen wol- te/ ein ſolcher wuͤrde die ſtraff ſeiner ſuͤnde tragen/ und zeigte eben damit/ daß auch ſein glaube nicht rechtſchaffen geweſen/ der die goͤttliche guͤter ſo gering ſchaͤtzet/ daß er ſie ſorgfaͤltiger unterſuchung der wahrheit nicht wuͤrdig achtet. Wie dann nun bey unſerer Lutheriſchen kirchen/ und dero reiner lehr/ auch derjenigen viele wahr- hafftig verdamt werden/ die alle ſolche articul ohne untermiſchten irrthum gehalten und behauptet haben/ weil es ihnen an dem glauben gemangelt hat/ als zu dem ſol- che lehr nicht genug iſt/ alſo kan es ſeyn und geſchiehet bey irrglaubigen (wie wir ſie von der lehr nennen) offters/ daß einfaͤltige hertzen/ die die wahrheit der ſchlechter dings zur ſeligkeit noͤthigſten articul/ mit dem der ſeligmachende glaube unmittel- bahr zuthun hat/ und dieſelbe ergreiffet/ in goͤttlicher gnade erkennen/ und von der gnade ihres GOttes ihr anerbottenes heil annehmen in einem heiligen und goͤttli- chen vertrauen/ wahrhafftig gerecht und ſelig ſind: und ihnen GOTT die gnade thut/ daß ſie entweder vor den haupt irrthumen ihrer religion (wie abſonderlich bey den Reformirten mit dem abſoluto decreto geſchehen kan) gar verwahret wer- den/ und davon weder wiſſen noch glauben. Daher ob ich ſchon mit ſolchen men- ſchen keine kirchliche gemeinſchafft/ in communion, oͤffentlichem GOttes dienſt und dergleichen halte (dann wie ich in dieſem und jenem ſubjecto mich des glau- bens verſehen/ bey einigen gar verſichern kan/ ſo kan ich doch ihre gemeinde durch aus nicht billichen/ oder in voͤlliger gemeinſchafft deroſelben ſtehen) ob ich auch wohl einem ſolchen menſchen eine weitere und reinere erkaͤntnuͤß wuͤnſche/ und wo ich ihn dazu bringen kan/ mich dahin bemuͤhe/ ſo kan ich doch ſein gutes an ihm ruͤhmen/ lieben und in eine genauere freundſchafft mit ihm tretten/ als ich ins gemein mit jeg-

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/220>, abgerufen am 21.11.2024.