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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702.

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Das sechste Capitel.
verborgenen vor mich seuffzenden seelen billich zuschreibe/ deren eyffrige und
feurige seuffzen der laulichkeit der meinigen/ darüber ich meistens zu klagen
habe/ kräfftig zu statten kommen: deswegen ich dann mich auch solchen lie-
ben seelen desto mehr verbunden achte/ als die mir die grösseste wohlthat
erzeigen/ welche von menschen herkommen kan. Jm übrigen leugne ich
nicht/ daß michs beschähmet/ und in gewisser maaß betrübet/ wo ich höre/
wie auch aus dessen geliebten ersehen habe/ was anderwärtlich andere gute
hertzen ihnen vor gute gedancken von dem allhie befindlichen guten/ sonder-
lich aber von unserer privat-zusammenkunfft/ machen/ und das werck an
sich selbst ansehen/ wie es gleichwohl so gar denjenigen grad nicht erreichet/
welcher von uns geglaubet wird. Es ist zwar eine hertzliche gute inten-
tion,
die uns zu solcher übung treibet/ auch wolten wir die gnade Gottes
nicht verleugnen/ daß er sein wort doch nicht gar ungesegnet lässet/ sondern
etwa mehrmahlen einige seelen eine auffmunterung und erbauung daraus
spüren/ ich zweiffele auch nicht/ daß der liebste Vater bereit wäre/ durch
solche gelegenheit uns mehreren segen und nutzen zu geben/ wo wir uns recht
dazu schickten/ nachdem ich aber die annoch erscheinende wenige frucht an-
sehe/ und versichert bin/ daß der mangel an uns seyn muß/ weiß ich offt
nicht/ was ich dencken solle/ und wo es eigendlich fehle/ darüber auch zu
weilen mit Christlichen freunden rede/ ob wir mittel und wege finden
möchten/ wie uns eine reichere gnade zu erlangung des vorhabenden zwecks
in solcher übung wiederfahren möchte. Jndessen brauchen wir des gegen-
wärtigen/ und warten/ biß der HErr zu mehrerer tüchtigkeit uns reinige.
Was derselbige über das allgemeine verderben in der Christenheit klaget/
ist so wahr/ daß es fast mit händen gegriffen werden kan. So ist ohn-
zweiffendlich eine ziemliche ursach bey uns Evangelischen sothanes verder-
bens/ die eingebildete unmöglichkeit der haltung der gebothen des HErrn/
und also die muthwillige verträhung einer an sich selbsten gantz heiligen
Göttlichen warheit. Jch erkenne freylich/ und lehre auch mit unserer ge-
sammten Evangelischen kirchen/ daß die geboth des HErren und dessen
heiligstes Gesetz/ wie sie nicht nur allein gute wercke sondern eine gantz gu-
te/ heilige und in ihrer erst erschaffenen reinigkeit bestehenden natur von
uns erfordern können und fordern/ und also nach welchem nicht nur nach
dem fleisch wandeln/ sondern auch dasselbige an sich haben/ verdammlich
ist/ in dieser sterblichkeit und so lang wir in den verderbten hütten wohnen/
vollkommen zu halten/ unmöglich seye/ und wer sich solches vor möglich
achtete/ würde sich allzu viel schmeucheln: aber hingegen preise ich die güte
und barmhertzigkeit des himmlischen Vaters/ daß derselbe sich unserer in
Christo erbarmet/ und uns nicht nur die vergebung wiederum anerboten/

sondern

Das ſechſte Capitel.
verborgenen vor mich ſeuffzenden ſeelen billich zuſchreibe/ deren eyffrige und
feurige ſeuffzen der laulichkeit der meinigen/ daruͤber ich meiſtens zu klagen
habe/ kraͤfftig zu ſtatten kommen: deswegen ich dann mich auch ſolchen lie-
ben ſeelen deſto mehr verbunden achte/ als die mir die groͤſſeſte wohlthat
erzeigen/ welche von menſchen herkommen kan. Jm uͤbrigen leugne ich
nicht/ daß michs beſchaͤhmet/ und in gewiſſer maaß betruͤbet/ wo ich hoͤre/
wie auch aus deſſen geliebten erſehen habe/ was anderwaͤrtlich andere gute
hertzen ihnen vor gute gedancken von dem allhie befindlichen guten/ ſonder-
lich aber von unſerer privat-zuſammenkunfft/ machen/ und das werck an
ſich ſelbſt anſehen/ wie es gleichwohl ſo gar denjenigen grad nicht erreichet/
welcher von uns geglaubet wird. Es iſt zwar eine hertzliche gute inten-
tion,
die uns zu ſolcher uͤbung treibet/ auch wolten wir die gnade Gottes
nicht verleugnen/ daß er ſein wort doch nicht gar ungeſegnet laͤſſet/ ſondern
etwa mehrmahlen einige ſeelen eine auffmunterung und erbauung daraus
ſpuͤren/ ich zweiffele auch nicht/ daß der liebſte Vater bereit waͤre/ durch
ſolche gelegenheit uns mehreren ſegen und nutzen zu geben/ wo wir uns recht
dazu ſchickten/ nachdem ich aber die annoch erſcheinende wenige frucht an-
ſehe/ und verſichert bin/ daß der mangel an uns ſeyn muß/ weiß ich offt
nicht/ was ich dencken ſolle/ und wo es eigendlich fehle/ daruͤber auch zu
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in ſolcher uͤbung wiederfahren moͤchte. Jndeſſen brauchen wir des gegen-
waͤrtigen/ und warten/ biß der HErr zu mehrerer tuͤchtigkeit uns reinige.
Was derſelbige uͤber das allgemeine verderben in der Chriſtenheit klaget/
iſt ſo wahr/ daß es faſt mit haͤnden gegriffen werden kan. So iſt ohn-
zweiffendlich eine ziemliche urſach bey uns Evangeliſchen ſothanes verder-
bens/ die eingebildete unmoͤglichkeit der haltung der gebothen des HErrn/
und alſo die muthwillige vertraͤhung einer an ſich ſelbſten gantz heiligen
Goͤttlichen warheit. Jch erkenne freylich/ und lehre auch mit unſerer ge-
ſammten Evangeliſchen kirchen/ daß die geboth des HErren und deſſen
heiligſtes Geſetz/ wie ſie nicht nur allein gute wercke ſondern eine gantz gu-
te/ heilige und in ihrer erſt erſchaffenen reinigkeit beſtehenden natur von
uns erfordern koͤnnen und fordern/ und alſo nach welchem nicht nur nach
dem fleiſch wandeln/ ſondern auch daſſelbige an ſich haben/ verdammlich
iſt/ in dieſer ſterblichkeit und ſo lang wir in den verderbten huͤtten wohnen/
vollkommen zu halten/ unmoͤglich ſeye/ und wer ſich ſolches vor moͤglich
achtete/ wuͤrde ſich allzu viel ſchmeucheln: aber hingegen preiſe ich die guͤte
und barmhertzigkeit des himmliſchen Vaters/ daß derſelbe ſich unſerer in
Chriſto erbarmet/ und uns nicht nur die vergebung wiederum anerboten/

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[414/0432] Das ſechſte Capitel. verborgenen vor mich ſeuffzenden ſeelen billich zuſchreibe/ deren eyffrige und feurige ſeuffzen der laulichkeit der meinigen/ daruͤber ich meiſtens zu klagen habe/ kraͤfftig zu ſtatten kommen: deswegen ich dann mich auch ſolchen lie- ben ſeelen deſto mehr verbunden achte/ als die mir die groͤſſeſte wohlthat erzeigen/ welche von menſchen herkommen kan. Jm uͤbrigen leugne ich nicht/ daß michs beſchaͤhmet/ und in gewiſſer maaß betruͤbet/ wo ich hoͤre/ wie auch aus deſſen geliebten erſehen habe/ was anderwaͤrtlich andere gute hertzen ihnen vor gute gedancken von dem allhie befindlichen guten/ ſonder- lich aber von unſerer privat-zuſammenkunfft/ machen/ und das werck an ſich ſelbſt anſehen/ wie es gleichwohl ſo gar denjenigen grad nicht erreichet/ welcher von uns geglaubet wird. Es iſt zwar eine hertzliche gute inten- tion, die uns zu ſolcher uͤbung treibet/ auch wolten wir die gnade Gottes nicht verleugnen/ daß er ſein wort doch nicht gar ungeſegnet laͤſſet/ ſondern etwa mehrmahlen einige ſeelen eine auffmunterung und erbauung daraus ſpuͤren/ ich zweiffele auch nicht/ daß der liebſte Vater bereit waͤre/ durch ſolche gelegenheit uns mehreren ſegen und nutzen zu geben/ wo wir uns recht dazu ſchickten/ nachdem ich aber die annoch erſcheinende wenige frucht an- ſehe/ und verſichert bin/ daß der mangel an uns ſeyn muß/ weiß ich offt nicht/ was ich dencken ſolle/ und wo es eigendlich fehle/ daruͤber auch zu weilen mit Chriſtlichen freunden rede/ ob wir mittel und wege finden moͤchten/ wie uns eine reichere gnade zu erlangung des vorhabenden zwecks in ſolcher uͤbung wiederfahren moͤchte. Jndeſſen brauchen wir des gegen- waͤrtigen/ und warten/ biß der HErr zu mehrerer tuͤchtigkeit uns reinige. Was derſelbige uͤber das allgemeine verderben in der Chriſtenheit klaget/ iſt ſo wahr/ daß es faſt mit haͤnden gegriffen werden kan. So iſt ohn- zweiffendlich eine ziemliche urſach bey uns Evangeliſchen ſothanes verder- bens/ die eingebildete unmoͤglichkeit der haltung der gebothen des HErrn/ und alſo die muthwillige vertraͤhung einer an ſich ſelbſten gantz heiligen Goͤttlichen warheit. Jch erkenne freylich/ und lehre auch mit unſerer ge- ſammten Evangeliſchen kirchen/ daß die geboth des HErren und deſſen heiligſtes Geſetz/ wie ſie nicht nur allein gute wercke ſondern eine gantz gu- te/ heilige und in ihrer erſt erſchaffenen reinigkeit beſtehenden natur von uns erfordern koͤnnen und fordern/ und alſo nach welchem nicht nur nach dem fleiſch wandeln/ ſondern auch daſſelbige an ſich haben/ verdammlich iſt/ in dieſer ſterblichkeit und ſo lang wir in den verderbten huͤtten wohnen/ vollkommen zu halten/ unmoͤglich ſeye/ und wer ſich ſolches vor moͤglich achtete/ wuͤrde ſich allzu viel ſchmeucheln: aber hingegen preiſe ich die guͤte und barmhertzigkeit des himmliſchen Vaters/ daß derſelbe ſich unſerer in Chriſto erbarmet/ und uns nicht nur die vergebung wiederum anerboten/ ſondern

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 3. Halle (Saale), 1702, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken03_1702/432>, abgerufen am 22.11.2024.