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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. II. SECTIO. XIV.
zweiffelung am allermeisten entgegen zu stehen scheinet/ ziehet dieselbe an
dem ende gewöhnlich als eine traurige folge nach sich. So weiß unsere kirch
nach der regel göttlichen worts von keinen sünden/ die in ihrer natur venia-
lia
wären/ sondern wir weisen dieselbe als ein gedicht des verdorbenen pap-
stums/ aus dem alle unserer kirchen heutige gebrechen noch herkommen/ dem-
selben mit recht anheim. Sondern wir erkennen allein diejenige aus Chri-
sti gnad vor venialia, bey welchen der wahre glaub und die busse noch stehet/
daher entweder aus blosser unwissenheit/ oder solcher übereylung geschehen/
da der mensch/ so bald er seines fehlers gewahr wird/ so bald inniglich dar-
über erschrickt/ sichs leyd seyn lässet/ und so bald aufs neue gegen solche sünde
dermassen mit glaubigem vorsatz/ eyfrigem gebet und sorgfältiger behutsam-
keit also wapnet/ daß es nicht möglich ist/ daß er so bald und so leicht wieder-
um in dieselbe falle/ wie wir insgemein in denjenigen geschehen zu pflegen
sehen/ welche von den welt-hertzen vor peccata venialia gehalten werden/
aber über dieselbe niemal einige wahre buß geschiehet/ indem weder ihre
schwere recht erkant/ noch sie durch eine gäntzliche abschwerung abgeleget
werden. So ist ja freylich die verführung unaussprechlich groß/ und kan
der jammer nicht genug beklagt werden/ da wir deren so viele auf dem ge-
wissen weg der verdamnüß sehen/ die sich ihre seligkeit niemal in zweiffel ha-
ben gezogen oder ziehen lassen. Und ach daß nicht offters unserer/ der pre-
diger laue lehr/ mit schuld hätte/ wann wir die göttliche wahrheit nicht
gantz/ wie sie unsere kirche völlig bekennet/ der gemeinde manchesmal vor-
tragen/ sondern nur allein offters bey den trostgründen bleiben/ welche sie sich
nachmal zu ihrer sicherheit mißdeuten/ nachdem wir selbs/ in welcher ordnung
solcher trost den menschen angehe/ und woran wir unseren wahren glauben
erkennen sollen/ nicht nachdrücklich gnug vortragen. Nun der HERR
wird endlich helffen/ aber vielleicht auf eine solche art/ daß die härte der cur
der schwere der kranckheit gemäß seye/ und des faulen fleisches vieles wird
müssen abgeschnitten und abgebrant werden/ daß der schade heilsam/ und
das wenig übrige gute erhalten/ so dann/ auf daß besseres und gesunderes
nachwachse/ platz gemacht werde. Er lehre uns nur seinen rath in allem er-
kennen/ und auch in den allerschweresten gerichten mit demüthigen gehorsam
und preiß ihn verehren/ so wird uns wol seyn.

SECTIO XV.
Klage über die anstösse im amt. Bestraffung
der sünden an dem nechsten mit behutsamkeit zu verrichten.

Miß-
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ARTIC. II. SECTIO. XIV.
zweiffelung am allermeiſten entgegen zu ſtehen ſcheinet/ ziehet dieſelbe an
dem ende gewoͤhnlich als eine traurige folge nach ſich. So weiß unſere kirch
nach der regel goͤttlichen worts von keinen ſuͤnden/ die in ihrer natur venia-
lia
waͤren/ ſondern wir weiſen dieſelbe als ein gedicht des verdorbenen pap-
ſtums/ aus dem alle unſerer kirchen heutige gebrechen noch herkommen/ dem-
ſelben mit recht anheim. Sondern wir erkennen allein diejenige aus Chri-
ſti gnad vor venialia, bey welchen der wahre glaub und die buſſe noch ſtehet/
daher entweder aus bloſſer unwiſſenheit/ oder ſolcher uͤbereylung geſchehen/
da der menſch/ ſo bald er ſeines fehlers gewahr wird/ ſo bald inniglich dar-
uͤber erſchrickt/ ſichs leyd ſeyn laͤſſet/ und ſo bald aufs neue gegen ſolche ſuͤnde
dermaſſen mit glaubigem vorſatz/ eyfrigem gebet und ſorgfaͤltiger behutſam-
keit alſo wapnet/ daß es nicht moͤglich iſt/ daß er ſo bald und ſo leicht wieder-
um in dieſelbe falle/ wie wir insgemein in denjenigen geſchehen zu pflegen
ſehen/ welche von den welt-hertzen vor peccata venialia gehalten werden/
aber uͤber dieſelbe niemal einige wahre buß geſchiehet/ indem weder ihre
ſchwere recht erkant/ noch ſie durch eine gaͤntzliche abſchwerung abgeleget
werden. So iſt ja freylich die verfuͤhrung unausſprechlich groß/ und kan
der jammer nicht genug beklagt werden/ da wir deren ſo viele auf dem ge-
wiſſen weg der verdamnuͤß ſehen/ die ſich ihre ſeligkeit niemal in zweiffel ha-
ben gezogen oder ziehen laſſen. Und ach daß nicht offters unſerer/ der pre-
diger laue lehr/ mit ſchuld haͤtte/ wann wir die goͤttliche wahrheit nicht
gantz/ wie ſie unſere kirche voͤllig bekennet/ der gemeinde manchesmal vor-
tragen/ ſondern nur allein offters bey den troſtgruͤnden bleiben/ welche ſie ſich
nachmal zu ihrer ſicherheit mißdeuten/ nachdem wir ſelbs/ in welcher ordnung
ſolcher troſt den menſchen angehe/ und woran wir unſeren wahren glauben
erkennen ſollen/ nicht nachdruͤcklich gnug vortragen. Nun der HERR
wird endlich helffen/ aber vielleicht auf eine ſolche art/ daß die haͤrte der cur
der ſchwere der kranckheit gemaͤß ſeye/ und des faulen fleiſches vieles wird
muͤſſen abgeſchnitten und abgebrant werden/ daß der ſchade heilſam/ und
das wenig uͤbrige gute erhalten/ ſo dann/ auf daß beſſeres und geſunderes
nachwachſe/ platz gemacht werde. Er lehre uns nur ſeinen rath in allem er-
kennen/ und auch in den allerſchwereſten gerichten mit demuͤthigen gehorſam
und preiß ihn verehren/ ſo wird uns wol ſeyn.

SECTIO XV.
Klage uͤber die anſtoͤſſe im amt. Beſtraffung
der ſuͤnden an dem nechſten mit behutſamkeit zu verrichtẽ.

Miß-
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[219/0231] ARTIC. II. SECTIO. XIV. zweiffelung am allermeiſten entgegen zu ſtehen ſcheinet/ ziehet dieſelbe an dem ende gewoͤhnlich als eine traurige folge nach ſich. So weiß unſere kirch nach der regel goͤttlichen worts von keinen ſuͤnden/ die in ihrer natur venia- lia waͤren/ ſondern wir weiſen dieſelbe als ein gedicht des verdorbenen pap- ſtums/ aus dem alle unſerer kirchen heutige gebrechen noch herkommen/ dem- ſelben mit recht anheim. Sondern wir erkennen allein diejenige aus Chri- ſti gnad vor venialia, bey welchen der wahre glaub und die buſſe noch ſtehet/ daher entweder aus bloſſer unwiſſenheit/ oder ſolcher uͤbereylung geſchehen/ da der menſch/ ſo bald er ſeines fehlers gewahr wird/ ſo bald inniglich dar- uͤber erſchrickt/ ſichs leyd ſeyn laͤſſet/ und ſo bald aufs neue gegen ſolche ſuͤnde dermaſſen mit glaubigem vorſatz/ eyfrigem gebet und ſorgfaͤltiger behutſam- keit alſo wapnet/ daß es nicht moͤglich iſt/ daß er ſo bald und ſo leicht wieder- um in dieſelbe falle/ wie wir insgemein in denjenigen geſchehen zu pflegen ſehen/ welche von den welt-hertzen vor peccata venialia gehalten werden/ aber uͤber dieſelbe niemal einige wahre buß geſchiehet/ indem weder ihre ſchwere recht erkant/ noch ſie durch eine gaͤntzliche abſchwerung abgeleget werden. So iſt ja freylich die verfuͤhrung unausſprechlich groß/ und kan der jammer nicht genug beklagt werden/ da wir deren ſo viele auf dem ge- wiſſen weg der verdamnuͤß ſehen/ die ſich ihre ſeligkeit niemal in zweiffel ha- ben gezogen oder ziehen laſſen. Und ach daß nicht offters unſerer/ der pre- diger laue lehr/ mit ſchuld haͤtte/ wann wir die goͤttliche wahrheit nicht gantz/ wie ſie unſere kirche voͤllig bekennet/ der gemeinde manchesmal vor- tragen/ ſondern nur allein offters bey den troſtgruͤnden bleiben/ welche ſie ſich nachmal zu ihrer ſicherheit mißdeuten/ nachdem wir ſelbs/ in welcher ordnung ſolcher troſt den menſchen angehe/ und woran wir unſeren wahren glauben erkennen ſollen/ nicht nachdruͤcklich gnug vortragen. Nun der HERR wird endlich helffen/ aber vielleicht auf eine ſolche art/ daß die haͤrte der cur der ſchwere der kranckheit gemaͤß ſeye/ und des faulen fleiſches vieles wird muͤſſen abgeſchnitten und abgebrant werden/ daß der ſchade heilſam/ und das wenig uͤbrige gute erhalten/ ſo dann/ auf daß beſſeres und geſunderes nachwachſe/ platz gemacht werde. Er lehre uns nur ſeinen rath in allem er- kennen/ und auch in den allerſchwereſten gerichten mit demuͤthigen gehorſam und preiß ihn verehren/ ſo wird uns wol ſeyn. 1680. SECTIO XV. Klage uͤber die anſtoͤſſe im amt. Beſtraffung der ſuͤnden an dem nechſten mit behutſamkeit zu verrichtẽ. Miß- e e 2

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/231>, abgerufen am 21.11.2024.