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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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Das siebende Capitel.
Christi gebot halten, ist vor augen, also kan dieselbe nicht bloß verworffen
werden. Nimmt mans aber also, daß wir aus eigenen kräften sie zu halten
vermögen, so ists eine gottlose lehre. Nimmt mans also, daß der mensch es
aus der gnade GOttes so weit bringe, als er noch in diesem fleisch wohnet, daß
er in solchem fleisch keine sünde mehr an sich habe, dieselbe nicht mehr in ihm
wohne, und das fleisch nicht mehr wider den Geist streite, so ist solches a-
bermal der schrifft entgegen, als welche die auch warhafftige gläubige
noch stätig zu ablegung des alten menschen, und tödtung dessen glieder er-
mahnet, daher dieselben auch in den wiedergebohrnen erkennet: Und also
ists unmüglich, das Gesetz zu halten in solcher vollkommenheit, wie wir es er-
klähren, daß es eine vollkommene und solche reinigkeit, wie wir vor dem fall
waren, erfordert, welche in dieser verderbnüß noch nicht möglich, bis wir die
aufliegende last allerdings ablegen. Nimmet mans aber also, daß wir aus
Christi krafft seine gebot halten, wie er mit unserer schwachheit, wo wir des
gegebenen masses der gnaden über uns treulich und ernstlich gebrauchen, ob
wirs wohl noch nicht auf das höchste gebracht haben, aber immer fort zu fah-
ren beflissen sind, gedult haben und an statt des jenigen, was wir solten, nem-
lich gantz ohne sündliche neigung seyn, dasjenige, was wir aus seiner krafft
vermögen, nemlich derselben sündlichen neigung in nichtes mehr folgen, an-
nehmen will, so ists eine heilige, nöthige lehr, die offt zu treiben ist.

4. Wie und quo ordine der mensch zu
bekehren?

AUf die weise, wie die lehrer des Neuen Testaments, als Johannes der
täuffer Mat. 3, 2. Christus Marc. 1, 15. Die Apostel Luc. 24,
47. Act. 2, 38. 17, 30. 31. 26, 18.
uns vorgegangen sind. Es muß
nemlich, wo der mensch vorhin dessen versichert ist, daß er eine seele, seligkeit,
verdamnüß glaubet, oder doch nur ein gefühl eines gewissens hat, demselben
gezeigt werden, wie er mit sünden GOtt beleidiget, wie dessen straff und gericht
einmal zu warten seye/ und wie er mit seinem fleischlichen leben, wie die men-
schen von natur führen, einmal in dieses fallen, ja so lang er auch hie in
der welt lebet, niemal zu einer wahren ruhe seiner seelen und vergnü-
gung kommen könne, sondern in der dienstbarkeit seiner fleischlichen lüsten
hie und dort ewig unselig seye. Wie jeglicher, wo er nur will in sich selbs ge-
hen, und der sache recht nachdencken, unschwer in sich gewahr werden wird,
wessen auch die Heyden selbs vieles davon erkant haben. Gott habe aber sich
über uns menschen erbarmet, seinen Sohn in die welt gesandt, denselben
für uns leyden lassen, daher uns die vergebung der sünden verdienen lassen,

die

Das ſiebende Capitel.
Chriſti gebot halten, iſt vor augen, alſo kan dieſelbe nicht bloß verworffen
werden. Nimmt mans aber alſo, daß wir aus eigenen kraͤften ſie zu halten
vermoͤgen, ſo iſts eine gottloſe lehre. Nimmt mans alſo, daß der menſch es
aus der gnade GOttes ſo weit bringe, als er noch in dieſem fleiſch wohnet, daß
er in ſolchem fleiſch keine ſuͤnde mehr an ſich habe, dieſelbe nicht mehr in ihm
wohne, und das fleiſch nicht mehr wider den Geiſt ſtreite, ſo iſt ſolches a-
bermal der ſchrifft entgegen, als welche die auch warhafftige glaͤubige
noch ſtaͤtig zu ablegung des alten menſchen, und toͤdtung deſſen glieder er-
mahnet, daher dieſelben auch in den wiedergebohrnen erkennet: Und alſo
iſts unmuͤglich, das Geſetz zu halten in ſolcher vollkommenheit, wie wir es er-
klaͤhren, daß es eine vollkommene und ſolche reinigkeit, wie wir vor dem fall
waren, erfordert, welche in dieſer verderbnuͤß noch nicht moͤglich, bis wir die
aufliegende laſt allerdings ablegen. Nimmet mans aber alſo, daß wir aus
Chriſti krafft ſeine gebot halten, wie er mit unſerer ſchwachheit, wo wir des
gegebenen maſſes der gnaden uͤber uns treulich und ernſtlich gebrauchen, ob
wirs wohl noch nicht auf das hoͤchſte gebracht haben, aber immer fort zu fah-
ren befliſſen ſind, gedult haben und an ſtatt des jenigen, was wir ſolten, nem-
lich gantz ohne ſuͤndliche neigung ſeyn, dasjenige, was wir aus ſeiner krafft
vermoͤgen, nemlich derſelben ſuͤndlichen neigung in nichtes mehr folgen, an-
nehmen will, ſo iſts eine heilige, noͤthige lehr, die offt zu treiben iſt.

4. Wie und quo ordine der menſch zu
bekehren?

AUf die weiſe, wie die lehrer des Neuen Teſtaments, als Johannes der
taͤuffer Mat. 3, 2. Chriſtus Marc. 1, 15. Die Apoſtel Luc. 24,
47. Act. 2, 38. 17, 30. 31. 26, 18.
uns vorgegangen ſind. Es muß
nemlich, wo der menſch vorhin deſſen verſichert iſt, daß er eine ſeele, ſeligkeit,
verdamnuͤß glaubet, oder doch nur ein gefuͤhl eines gewiſſens hat, demſelben
gezeigt werden, wie er mit ſuͤnden GOtt beleidiget, wie deſſen ſtraff und gericht
einmal zu warten ſeye/ und wie er mit ſeinem fleiſchlichen leben, wie die men-
ſchen von natur fuͤhren, einmal in dieſes fallen, ja ſo lang er auch hie in
der welt lebet, niemal zu einer wahren ruhe ſeiner ſeelen und vergnuͤ-
gung kommen koͤnne, ſondern in der dienſtbarkeit ſeiner fleiſchlichen luͤſten
hie und dort ewig unſelig ſeye. Wie jeglicher, wo er nur will in ſich ſelbs ge-
hen, und der ſache recht nachdencken, unſchwer in ſich gewahr werden wird,
weſſen auch die Heyden ſelbs vieles davon erkant haben. Gott habe aber ſich
uͤber uns menſchen erbarmet, ſeinen Sohn in die welt geſandt, denſelben
fuͤr uns leyden laſſen, daher uns die vergebung der ſuͤnden verdienen laſſen,

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[16/0028] Das ſiebende Capitel. Chriſti gebot halten, iſt vor augen, alſo kan dieſelbe nicht bloß verworffen werden. Nimmt mans aber alſo, daß wir aus eigenen kraͤften ſie zu halten vermoͤgen, ſo iſts eine gottloſe lehre. Nimmt mans alſo, daß der menſch es aus der gnade GOttes ſo weit bringe, als er noch in dieſem fleiſch wohnet, daß er in ſolchem fleiſch keine ſuͤnde mehr an ſich habe, dieſelbe nicht mehr in ihm wohne, und das fleiſch nicht mehr wider den Geiſt ſtreite, ſo iſt ſolches a- bermal der ſchrifft entgegen, als welche die auch warhafftige glaͤubige noch ſtaͤtig zu ablegung des alten menſchen, und toͤdtung deſſen glieder er- mahnet, daher dieſelben auch in den wiedergebohrnen erkennet: Und alſo iſts unmuͤglich, das Geſetz zu halten in ſolcher vollkommenheit, wie wir es er- klaͤhren, daß es eine vollkommene und ſolche reinigkeit, wie wir vor dem fall waren, erfordert, welche in dieſer verderbnuͤß noch nicht moͤglich, bis wir die aufliegende laſt allerdings ablegen. Nimmet mans aber alſo, daß wir aus Chriſti krafft ſeine gebot halten, wie er mit unſerer ſchwachheit, wo wir des gegebenen maſſes der gnaden uͤber uns treulich und ernſtlich gebrauchen, ob wirs wohl noch nicht auf das hoͤchſte gebracht haben, aber immer fort zu fah- ren befliſſen ſind, gedult haben und an ſtatt des jenigen, was wir ſolten, nem- lich gantz ohne ſuͤndliche neigung ſeyn, dasjenige, was wir aus ſeiner krafft vermoͤgen, nemlich derſelben ſuͤndlichen neigung in nichtes mehr folgen, an- nehmen will, ſo iſts eine heilige, noͤthige lehr, die offt zu treiben iſt. 4. Wie und quo ordine der menſch zu bekehren? AUf die weiſe, wie die lehrer des Neuen Teſtaments, als Johannes der taͤuffer Mat. 3, 2. Chriſtus Marc. 1, 15. Die Apoſtel Luc. 24, 47. Act. 2, 38. 17, 30. 31. 26, 18. uns vorgegangen ſind. Es muß nemlich, wo der menſch vorhin deſſen verſichert iſt, daß er eine ſeele, ſeligkeit, verdamnuͤß glaubet, oder doch nur ein gefuͤhl eines gewiſſens hat, demſelben gezeigt werden, wie er mit ſuͤnden GOtt beleidiget, wie deſſen ſtraff und gericht einmal zu warten ſeye/ und wie er mit ſeinem fleiſchlichen leben, wie die men- ſchen von natur fuͤhren, einmal in dieſes fallen, ja ſo lang er auch hie in der welt lebet, niemal zu einer wahren ruhe ſeiner ſeelen und vergnuͤ- gung kommen koͤnne, ſondern in der dienſtbarkeit ſeiner fleiſchlichen luͤſten hie und dort ewig unſelig ſeye. Wie jeglicher, wo er nur will in ſich ſelbs ge- hen, und der ſache recht nachdencken, unſchwer in ſich gewahr werden wird, weſſen auch die Heyden ſelbs vieles davon erkant haben. Gott habe aber ſich uͤber uns menſchen erbarmet, ſeinen Sohn in die welt geſandt, denſelben fuͤr uns leyden laſſen, daher uns die vergebung der ſuͤnden verdienen laſſen, die

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/28>, abgerufen am 23.11.2024.