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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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Das siebende Capitel.
es doch die bewandnüß des menschlichen lebens nicht anders/ als daß alle-
mal die majora, nemlich in den dingen/ die dem menschlichen urtheil unter-
worffen sind/ obtiniren müssen: unter solche gehöret aber die behaltung o-
der ausschliessung eines bruders/ welche der HERR selbs der kirchen/ soaus
menschen bestehet/ anbefohlen hat.

§. 3. Ob nun dieses nicht wohl widersprochen werden kan/ so ist doch
ferner zu beobachten/ weil gleichwol müglich/ daß die majora fehlen können
und die sache so wichtig ist/ daß ein solcher fehler viel gefahr und schaden
nach sich ziehen kan/ daß nemlich aller fleiß angewendet werden solle/ daß
das urtheil per majora nicht fehle. Dahin gehöret nun/ daß alle/ die in ei-
nem solchen wichtigen judicio sitzen/ so wol jeder selbs vor sich GOTT um
den Geist der weißheit hertzlich anruffe/ als auch ein solcher consessus mit
einem inbrünstigen gebet um göttliche regierung/ dero die den irrthumen vor
sich selbs unterworffene menschen so hoch bedürfftig seynd/ angehoben werde:
So möchte auch sehr dienlich seyn/ wo offters derjenige/ so das directorium
führet/ oder ein anderer/ die assessores der wichtigkeit ihres vorhabens/
und alles in der furcht des HERRN reifflich und gottselig zu überlegen/
nichts aber aus eigenen passionen zu thun/ oder andern zu gefallen zu voti-
ren/ mit vorhaltung der verantwortung/ welche sie wegen ihrer stimmen der-
maleins zu thun haben werden/ erinnerte. Es möchte auch nicht undienlich
seyn/ daß in einer solchen wichtigen und etwa zweiffelhafftigen sache/ ehe
zum votiren selbs geschritten/ in antecessum entweder von einem oder meh-
rern die momenta der sache pro & contra mit fleiß vorgetragen/ und andern
zur erwegung erläutert würden/ oder auch daß alle zuerst/ jeder in seiner ord-
nung/ was sie finden/ auf eine oder andere seite gesagt werden zu können/ so
viel nemlich jeder verstehet/ vorbrächten/ und also die wirckliche ablegung der
stimmen nicht eher geschehe/ als jeglicher schon bereits gehöret/ was alle ande-
re auf beyde seiten vor pondera oder rationes wissen/ so ihm nachmal ein
stattliches liecht zu seinem voto geben kan/ aus allen endlich dasjenige zu weh-
len/ was er das kräftigste und gegründetste findet Auf solche art ob zwar mehr
zeit angewendet werden muß/ welche aber keinen in einer so wichtigen sache
dauren solle/ wird zweyerley gewonnen/ auf einer seit/ das jeder sein votum
alsdenn so viel bedächtlicher geben kan/ da er alles angehöret/ was auch von
den folgenden zur erläuterung hat beygebracht werden können/ auf der andern
seiten/ daß es eben des retractirens des einmal gegebenen voti nicht nöthig ist/
welches sonsten offt nöthig/ da einer der erst votirenden in den folgenden vo-
tis
dergleichen momenta höret/ daß er wolte anders votiret haben/ weil er
diese vorher nicht gewust/ indessen bey manchen noch solche schwachheit sich fin-

det/

Das ſiebende Capitel.
es doch die bewandnuͤß des menſchlichen lebens nicht anders/ als daß alle-
mal die majora, nemlich in den dingen/ die dem menſchlichen urtheil unter-
worffen ſind/ obtiniren muͤſſen: unter ſolche gehoͤret aber die behaltung o-
der ausſchlieſſung eines bruders/ welche der HERR ſelbs der kirchen/ ſoaus
menſchen beſtehet/ anbefohlen hat.

§. 3. Ob nun dieſes nicht wohl widerſprochen werden kan/ ſo iſt doch
ferner zu beobachten/ weil gleichwol muͤglich/ daß die majora fehlen koͤnnen
und die ſache ſo wichtig iſt/ daß ein ſolcher fehler viel gefahr und ſchaden
nach ſich ziehen kan/ daß nemlich aller fleiß angewendet werden ſolle/ daß
das urtheil per majora nicht fehle. Dahin gehoͤret nun/ daß alle/ die in ei-
nem ſolchen wichtigen judicio ſitzen/ ſo wol jeder ſelbs vor ſich GOTT um
den Geiſt der weißheit hertzlich anruffe/ als auch ein ſolcher conſeſſus mit
einem inbruͤnſtigen gebet um goͤttliche regierung/ dero die den irrthumen vor
ſich ſelbs unterworffene menſchen ſo hoch beduͤrfftig ſeynd/ angehoben werde:
So moͤchte auch ſehr dienlich ſeyn/ wo offters derjenige/ ſo das directorium
fuͤhret/ oder ein anderer/ die aſſeſſores der wichtigkeit ihres vorhabens/
und alles in der furcht des HERRN reifflich und gottſelig zu uͤberlegen/
nichts aber aus eigenen paſſionen zu thun/ oder andern zu gefallen zu voti-
ren/ mit vorhaltung der verantwortung/ welche ſie wegen ihrer ſtimmen der-
maleins zu thun haben werden/ erinnerte. Es moͤchte auch nicht undienlich
ſeyn/ daß in einer ſolchen wichtigen und etwa zweiffelhafftigen ſache/ ehe
zum votiren ſelbs geſchritten/ in anteceſſum entweder von einem oder meh-
rern die momenta der ſache pro & contra mit fleiß vorgetragen/ und andern
zur erwegung erlaͤutert wuͤrden/ oder auch daß alle zuerſt/ jeder in ſeiner ord-
nung/ was ſie finden/ auf eine oder andere ſeite geſagt werden zu koͤnnen/ ſo
viel nemlich jeder verſtehet/ vorbraͤchten/ und alſo die wirckliche ablegung der
ſtimmen nicht eher geſchehe/ als jeglicher ſchon bereits gehoͤret/ was alle ande-
re auf beyde ſeiten vor pondera oder rationes wiſſen/ ſo ihm nachmal ein
ſtattliches liecht zu ſeinem voto geben kan/ aus allen endlich dasjenige zu weh-
len/ was er das kraͤftigſte und gegruͤndetſte findet Auf ſolche art ob zwar mehr
zeit angewendet werden muß/ welche aber keinen in einer ſo wichtigen ſache
dauren ſolle/ wird zweyerley gewonnen/ auf einer ſeit/ das jeder ſein votum
alsdenn ſo viel bedaͤchtlicher geben kan/ da er alles angehoͤret/ was auch von
den folgenden zur erlaͤuterung hat beygebracht werden koͤnnen/ auf der andern
ſeiten/ daß es eben des retractirens des einmal gegebenen voti nicht noͤthig iſt/
welches ſonſten offt noͤthig/ da einer der erſt votirenden in den folgenden vo-
tis
dergleichen momenta hoͤret/ daß er wolte anders votiret haben/ weil er
dieſe vorher nicht gewuſt/ indeſſen bey manchen noch ſolche ſchwachheit ſich fin-

det/
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[294/0306] Das ſiebende Capitel. es doch die bewandnuͤß des menſchlichen lebens nicht anders/ als daß alle- mal die majora, nemlich in den dingen/ die dem menſchlichen urtheil unter- worffen ſind/ obtiniren muͤſſen: unter ſolche gehoͤret aber die behaltung o- der ausſchlieſſung eines bruders/ welche der HERR ſelbs der kirchen/ ſoaus menſchen beſtehet/ anbefohlen hat. §. 3. Ob nun dieſes nicht wohl widerſprochen werden kan/ ſo iſt doch ferner zu beobachten/ weil gleichwol muͤglich/ daß die majora fehlen koͤnnen und die ſache ſo wichtig iſt/ daß ein ſolcher fehler viel gefahr und ſchaden nach ſich ziehen kan/ daß nemlich aller fleiß angewendet werden ſolle/ daß das urtheil per majora nicht fehle. Dahin gehoͤret nun/ daß alle/ die in ei- nem ſolchen wichtigen judicio ſitzen/ ſo wol jeder ſelbs vor ſich GOTT um den Geiſt der weißheit hertzlich anruffe/ als auch ein ſolcher conſeſſus mit einem inbruͤnſtigen gebet um goͤttliche regierung/ dero die den irrthumen vor ſich ſelbs unterworffene menſchen ſo hoch beduͤrfftig ſeynd/ angehoben werde: So moͤchte auch ſehr dienlich ſeyn/ wo offters derjenige/ ſo das directorium fuͤhret/ oder ein anderer/ die aſſeſſores der wichtigkeit ihres vorhabens/ und alles in der furcht des HERRN reifflich und gottſelig zu uͤberlegen/ nichts aber aus eigenen paſſionen zu thun/ oder andern zu gefallen zu voti- ren/ mit vorhaltung der verantwortung/ welche ſie wegen ihrer ſtimmen der- maleins zu thun haben werden/ erinnerte. Es moͤchte auch nicht undienlich ſeyn/ daß in einer ſolchen wichtigen und etwa zweiffelhafftigen ſache/ ehe zum votiren ſelbs geſchritten/ in anteceſſum entweder von einem oder meh- rern die momenta der ſache pro & contra mit fleiß vorgetragen/ und andern zur erwegung erlaͤutert wuͤrden/ oder auch daß alle zuerſt/ jeder in ſeiner ord- nung/ was ſie finden/ auf eine oder andere ſeite geſagt werden zu koͤnnen/ ſo viel nemlich jeder verſtehet/ vorbraͤchten/ und alſo die wirckliche ablegung der ſtimmen nicht eher geſchehe/ als jeglicher ſchon bereits gehoͤret/ was alle ande- re auf beyde ſeiten vor pondera oder rationes wiſſen/ ſo ihm nachmal ein ſtattliches liecht zu ſeinem voto geben kan/ aus allen endlich dasjenige zu weh- len/ was er das kraͤftigſte und gegruͤndetſte findet Auf ſolche art ob zwar mehr zeit angewendet werden muß/ welche aber keinen in einer ſo wichtigen ſache dauren ſolle/ wird zweyerley gewonnen/ auf einer ſeit/ das jeder ſein votum alsdenn ſo viel bedaͤchtlicher geben kan/ da er alles angehoͤret/ was auch von den folgenden zur erlaͤuterung hat beygebracht werden koͤnnen/ auf der andern ſeiten/ daß es eben des retractirens des einmal gegebenen voti nicht noͤthig iſt/ welches ſonſten offt noͤthig/ da einer der erſt votirenden in den folgenden vo- tis dergleichen momenta hoͤret/ daß er wolte anders votiret haben/ weil er dieſe vorher nicht gewuſt/ indeſſen bey manchen noch ſolche ſchwachheit ſich fin- det/

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/306>, abgerufen am 22.11.2024.