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Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715.

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ARTIC. V. SECTIO LX.
HErr weiter geführet (ach daß hiervon meine erfahrung nicht so gering wäre!) die-
jenige übung ist, in dero der vater seinen kindern das meiste seiner gütigkeit zu schme-
cken giebet. Ferner solte es zwar das ansehen gewinnen, daß mich betrüben werde,
was mein werthester Herr meldet, wie er von andern, wegen seiner gottes-furcht un-
gleich angesehen werde. Aber wie es nicht ohne ist, daß man billig mit denjenigen mit-
leiden, und so ferne betrübnüß hat, die sich mit unrecht an den kindern GOttes, und
also auch an dero vater selbs versündigen, weil sie ihre seelen damit schwerlich ver-
letzen, so befremdet mich doch solches so gar nicht, als offt ich wiederum neue exem-
pel davon höre oder sehe, daß ich auch die, die dergleichen leiden betrifft, nicht so wol
beklage, als mich vielmehr mit ihnen und über sie freue. Denn es muß einmal
dabey bleiben, daß alle die gottselig in CHristo JEsu leben wollen, nach der 2.
Tim. 3, 12. nicht allein unter den offenbaren feinden der christlichen oder reinen
lehr, sondern auch unter denen, die dieser buchstaben nicht verwerffen, müssen ver-
folgung leiden: und müssen sich nicht verwundern, wo sie die welt, sie habe nun
CHristi mantel eusserlich um sich gehengt oder nicht, hasset, und zwar mit nach-
druck hasset, das ist, sie alle früchte des hasses, als viel der HErr ihr noch zugiebt,
fühlen lässet. Also tragen wir die liberey unsers heylandes und das kennzeichen sei-
ner nachfolge billich nicht nur mit gedult, sondern wo die krafft des geistes zunimmet,
auch mit freuden, demjenigen danckende, der uns auch also tieffer in die gemein-
schafft seines sohnes mit dem wir einmal mit herrschen sollen, eintringen lässet. Wie
hingegen zu sorgen wäre, wo die welt unser allerdings schonete, daß sie allzuviel
des ihrigen, so ihr gefället, an uns finden und erkennen müßte. Sonderlich aber
hat mich das liebe schreiben darinnen erfreuet, daß ich sehe, wie mein geehrtester
Herr den betrübten zustand unserer kirchen mit gar andern als gemeinen augen
einsiehet, als welcher gewißlich nicht sowol in der gefahr, so uns von den öffentlichen
feinden vor augen stehet, u. auch solcher sorglich viel grösser ist, als die meiste glau-
ben, als vielmehr in ihrem innerlichen verderben bestehet, welches ich so schwer zu
seyn erkenne, daß demselben nicht anders als durch ungemeine göttl. wunderkrafft
geholffen werden kan; vornemlich weil in dem stand derjenigen, welche helffen
solten, eins der grösten stück des verderbens mit stecket. Ach hätten wir lauter,
oder nur viele Paulos oder Timotheos, und nicht anders gesinnte nach Phil. 2, 20.
2. wie solte unsere kirche so bald ein ander ansehen gewinnen, ja eine solche gestalt
bekommen, daß der HErr wiederum an seiner auserwehlten braut ein rechtes wol-
gefallen hätte, und ihre kinder sich ihrer freuen könten? ich finde vornemlich zwo
hauptwahrheiten, die ich sorge von denen, so des HErrn willen seinem volck vor-
tragen sollen, meistens nicht fleißig gnug vorgetragen zu werden, wolte GOtt, daß
nicht einige dieselbe gar heimlich oder öffentlich verlästerten, aufs wenigste wo sie
recht gelehret werden, die wort der lehrenden gemeiniglich verkehrten, um irri-
gen verstand daraus zu ziehen. Die eine ist diese, daß aller unser glaube und er-

käntnüß
q q q q 3

ARTIC. V. SECTIO LX.
HErr weiter gefuͤhret (ach daß hiervon meine erfahrung nicht ſo gering waͤre!) die-
jenige uͤbung iſt, in dero der vater ſeinen kindern das meiſte ſeiner guͤtigkeit zu ſchme-
cken giebet. Ferner ſolte es zwar das anſehen gewinnen, daß mich betruͤben werde,
was mein wertheſter Herr meldet, wie er von andern, wegen ſeiner gottes-furcht un-
gleich angeſehen werde. Aber wie es nicht ohne iſt, daß man billig mit denjenigẽ mit-
leiden, und ſo ferne betruͤbnuͤß hat, die ſich mit unrecht an den kindern GOttes, und
alſo auch an dero vater ſelbs verſuͤndigen, weil ſie ihre ſeelen damit ſchwerlich ver-
letzen, ſo befremdet mich doch ſolches ſo gar nicht, als offt ich wiederum neue exem-
pel davon hoͤre oder ſehe, daß ich auch die, die dergleichen leiden betrifft, nicht ſo wol
beklage, als mich vielmehr mit ihnen und uͤber ſie freue. Denn es muß einmal
dabey bleiben, daß alle die gottſelig in CHriſto JEſu leben wollen, nach der 2.
Tim. 3, 12. nicht allein unter den offenbaren feinden der chriſtlichen oder reinen
lehr, ſondern auch unter denen, die dieſer buchſtaben nicht verwerffen, muͤſſen ver-
folgung leiden: und muͤſſen ſich nicht verwundern, wo ſie die welt, ſie habe nun
CHriſti mantel euſſerlich um ſich gehengt oder nicht, haſſet, und zwar mit nach-
druck haſſet, das iſt, ſie alle fruͤchte des haſſes, als viel der HErr ihr noch zugiebt,
fuͤhlen laͤſſet. Alſo tragen wir die liberey unſers heylandes und das kennzeichen ſei-
ner nachfolge billich nicht nur mit gedult, ſondern wo die krafft des geiſtes zunim̃et,
auch mit freuden, demjenigen danckende, der uns auch alſo tieffer in die gemein-
ſchafft ſeines ſohnes mit dem wir einmal mit herꝛſchen ſollen, eintringen laͤſſet. Wie
hingegen zu ſorgen waͤre, wo die welt unſer allerdings ſchonete, daß ſie allzuviel
des ihrigen, ſo ihr gefaͤllet, an uns finden und erkennen muͤßte. Sonderlich aber
hat mich das liebe ſchreiben darinnen erfreuet, daß ich ſehe, wie mein geehrteſter
Herr den betruͤbten zuſtand unſerer kirchen mit gar andern als gemeinen augen
einſiehet, als welcher gewißlich nicht ſowol in der gefahr, ſo uns von den oͤffentlichen
feinden vor augen ſtehet, u. auch ſolcher ſorglich viel groͤſſer iſt, als die meiſte glau-
ben, als vielmehr in ihrem innerlichen verderben beſtehet, welches ich ſo ſchwer zu
ſeyn erkenne, daß demſelben nicht anders als durch ungemeine goͤttl. wunderkrafft
geholffen werden kan; vornemlich weil in dem ſtand derjenigen, welche helffen
ſolten, eins der groͤſten ſtuͤck des verderbens mit ſtecket. Ach haͤtten wir lauter,
oder nur viele Paulos oder Timotheos, und nicht anders geſinnte nach Phil. 2, 20.
2. wie ſolte unſere kirche ſo bald ein ander anſehen gewinnen, ja eine ſolche geſtalt
bekommen, daß der HErr wiederum an ſeiner auserwehlten braut ein rechtes wol-
gefallen haͤtte, und ihre kinder ſich ihrer freuen koͤnten? ich finde vornemlich zwo
hauptwahrheiten, die ich ſorge von denen, ſo des HErrn willen ſeinem volck vor-
tragen ſollen, meiſtens nicht fleißig gnug vorgetragen zu werden, wolte GOtt, daß
nicht einige dieſelbe gar heimlich oder oͤffentlich verlaͤſterten, aufs wenigſte wo ſie
recht gelehret werden, die wort der lehrenden gemeiniglich verkehrten, um irri-
gen verſtand daraus zu ziehen. Die eine iſt dieſe, daß aller unſer glaube und er-

kaͤntnuͤß
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[677/0689] ARTIC. V. SECTIO LX. HErr weiter gefuͤhret (ach daß hiervon meine erfahrung nicht ſo gering waͤre!) die- jenige uͤbung iſt, in dero der vater ſeinen kindern das meiſte ſeiner guͤtigkeit zu ſchme- cken giebet. Ferner ſolte es zwar das anſehen gewinnen, daß mich betruͤben werde, was mein wertheſter Herr meldet, wie er von andern, wegen ſeiner gottes-furcht un- gleich angeſehen werde. Aber wie es nicht ohne iſt, daß man billig mit denjenigẽ mit- leiden, und ſo ferne betruͤbnuͤß hat, die ſich mit unrecht an den kindern GOttes, und alſo auch an dero vater ſelbs verſuͤndigen, weil ſie ihre ſeelen damit ſchwerlich ver- letzen, ſo befremdet mich doch ſolches ſo gar nicht, als offt ich wiederum neue exem- pel davon hoͤre oder ſehe, daß ich auch die, die dergleichen leiden betrifft, nicht ſo wol beklage, als mich vielmehr mit ihnen und uͤber ſie freue. Denn es muß einmal dabey bleiben, daß alle die gottſelig in CHriſto JEſu leben wollen, nach der 2. Tim. 3, 12. nicht allein unter den offenbaren feinden der chriſtlichen oder reinen lehr, ſondern auch unter denen, die dieſer buchſtaben nicht verwerffen, muͤſſen ver- folgung leiden: und muͤſſen ſich nicht verwundern, wo ſie die welt, ſie habe nun CHriſti mantel euſſerlich um ſich gehengt oder nicht, haſſet, und zwar mit nach- druck haſſet, das iſt, ſie alle fruͤchte des haſſes, als viel der HErr ihr noch zugiebt, fuͤhlen laͤſſet. Alſo tragen wir die liberey unſers heylandes und das kennzeichen ſei- ner nachfolge billich nicht nur mit gedult, ſondern wo die krafft des geiſtes zunim̃et, auch mit freuden, demjenigen danckende, der uns auch alſo tieffer in die gemein- ſchafft ſeines ſohnes mit dem wir einmal mit herꝛſchen ſollen, eintringen laͤſſet. Wie hingegen zu ſorgen waͤre, wo die welt unſer allerdings ſchonete, daß ſie allzuviel des ihrigen, ſo ihr gefaͤllet, an uns finden und erkennen muͤßte. Sonderlich aber hat mich das liebe ſchreiben darinnen erfreuet, daß ich ſehe, wie mein geehrteſter Herr den betruͤbten zuſtand unſerer kirchen mit gar andern als gemeinen augen einſiehet, als welcher gewißlich nicht ſowol in der gefahr, ſo uns von den oͤffentlichen feinden vor augen ſtehet, u. auch ſolcher ſorglich viel groͤſſer iſt, als die meiſte glau- ben, als vielmehr in ihrem innerlichen verderben beſtehet, welches ich ſo ſchwer zu ſeyn erkenne, daß demſelben nicht anders als durch ungemeine goͤttl. wunderkrafft geholffen werden kan; vornemlich weil in dem ſtand derjenigen, welche helffen ſolten, eins der groͤſten ſtuͤck des verderbens mit ſtecket. Ach haͤtten wir lauter, oder nur viele Paulos oder Timotheos, und nicht anders geſinnte nach Phil. 2, 20. 2. wie ſolte unſere kirche ſo bald ein ander anſehen gewinnen, ja eine ſolche geſtalt bekommen, daß der HErr wiederum an ſeiner auserwehlten braut ein rechtes wol- gefallen haͤtte, und ihre kinder ſich ihrer freuen koͤnten? ich finde vornemlich zwo hauptwahrheiten, die ich ſorge von denen, ſo des HErrn willen ſeinem volck vor- tragen ſollen, meiſtens nicht fleißig gnug vorgetragen zu werden, wolte GOtt, daß nicht einige dieſelbe gar heimlich oder oͤffentlich verlaͤſterten, aufs wenigſte wo ſie recht gelehret werden, die wort der lehrenden gemeiniglich verkehrten, um irri- gen verſtand daraus zu ziehen. Die eine iſt dieſe, daß aller unſer glaube und er- kaͤntnuͤß q q q q 3

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Zitationshilfe: Spener, Philipp Jakob: Theologische Bedencken. Bd. 4. 3. Aufl. Halle (Saale), 1715, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spener_bedencken04_1702/689>, abgerufen am 22.11.2024.