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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861.

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Langsam wandelten die schlanken Gestalten durch
das grüne Revier; oft still stehend, hier einen Rosen¬
busch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke
prangte als seine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen
zuzuschauen, das sich lustig von Ast zu Ast und von
Zweig zu Zweig schwang. Immer mehr überkam Os¬
wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen
Traum; als träume er nur diesen Sonnenschein, diesen
Blumenduft, diesen Vogelgesang; als träume er nur
Melitta's süße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen --
und auch Melitta war es, als ob sie heute mit ganz
anderen Augen sehe, mit ganz anderen Ohren höre.
Der fremde Mann, den sie durch ihre Besitzung führte,
war ihr so vertraut, als kenne sie ihn schon seit vielen,
vielen Jahren, als habe sie ihn immer gekannt; und
was sie seit Jahren tagtäglich gesehen, erschien ihr
jetzt beinahe fremd. So wahr ist es, daß der Mensch
dem Menschen ewig nicht nur das Interessanteste, son¬
dern auch das einzig Verständliche im ganzen Umfang
des Daseins ist. Für eine Menschenseele, die mit
unserer Seele harmonisch zusammenklingt, werfen wir
freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬
mangelung dieses höchsten Glücks, das Einerlei der
Stunden auszufüllen suchten. Und wenn dies schon
für den Mann gilt, so gilt es doppelt und dreifach

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Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch
das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬
buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke
prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen
zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von
Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬
wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen
Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen
Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur
Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen —
und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz
anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre.
Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte,
war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen,
vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und
was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr
jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch
dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬
dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang
des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit
unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir
freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬
mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der
Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon
für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach

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[163/0173] Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬ buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬ wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen — und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre. Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte, war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen, vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬ dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬ mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach 11*

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/173>, abgerufen am 21.11.2024.