Langsam wandelten die schlanken Gestalten durch das grüne Revier; oft still stehend, hier einen Rosen¬ busch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke prangte als seine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen zuzuschauen, das sich lustig von Ast zu Ast und von Zweig zu Zweig schwang. Immer mehr überkam Os¬ wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen Traum; als träume er nur diesen Sonnenschein, diesen Blumenduft, diesen Vogelgesang; als träume er nur Melitta's süße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen -- und auch Melitta war es, als ob sie heute mit ganz anderen Augen sehe, mit ganz anderen Ohren höre. Der fremde Mann, den sie durch ihre Besitzung führte, war ihr so vertraut, als kenne sie ihn schon seit vielen, vielen Jahren, als habe sie ihn immer gekannt; und was sie seit Jahren tagtäglich gesehen, erschien ihr jetzt beinahe fremd. So wahr ist es, daß der Mensch dem Menschen ewig nicht nur das Interessanteste, son¬ dern auch das einzig Verständliche im ganzen Umfang des Daseins ist. Für eine Menschenseele, die mit unserer Seele harmonisch zusammenklingt, werfen wir freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬ mangelung dieses höchsten Glücks, das Einerlei der Stunden auszufüllen suchten. Und wenn dies schon für den Mann gilt, so gilt es doppelt und dreifach
11*
Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬ buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬ wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen — und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre. Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte, war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen, vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬ dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬ mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach
11*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0173"n="163"/><p>Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch<lb/>
das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬<lb/>
buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke<lb/>
prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen<lb/>
zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von<lb/>
Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬<lb/>
wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen<lb/>
Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen<lb/>
Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur<lb/>
Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen —<lb/>
und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz<lb/>
anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre.<lb/>
Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte,<lb/>
war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen,<lb/>
vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und<lb/>
was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr<lb/>
jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch<lb/>
dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬<lb/>
dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang<lb/>
des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit<lb/>
unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir<lb/>
freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬<lb/>
mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der<lb/>
Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon<lb/>
für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach<lb/><fwplace="bottom"type="sig">11*<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[163/0173]
Langſam wandelten die ſchlanken Geſtalten durch
das grüne Revier; oft ſtill ſtehend, hier einen Roſen¬
buſch zu bewundern, der in noch üppigerem Schmucke
prangte als ſeine Nachbarn, dort einem Eichhörnchen
zuzuſchauen, das ſich luſtig von Aſt zu Aſt und von
Zweig zu Zweig ſchwang. Immer mehr überkam Os¬
wald das Gefühl, als wandle er in einem herrlichen
Traum; als träume er nur dieſen Sonnenſchein, dieſen
Blumenduft, dieſen Vogelgeſang; als träume er nur
Melitta's ſüße Stimme, Melitta's liebestiefe Augen —
und auch Melitta war es, als ob ſie heute mit ganz
anderen Augen ſehe, mit ganz anderen Ohren höre.
Der fremde Mann, den ſie durch ihre Beſitzung führte,
war ihr ſo vertraut, als kenne ſie ihn ſchon ſeit vielen,
vielen Jahren, als habe ſie ihn immer gekannt; und
was ſie ſeit Jahren tagtäglich geſehen, erſchien ihr
jetzt beinahe fremd. So wahr iſt es, daß der Menſch
dem Menſchen ewig nicht nur das Intereſſanteſte, ſon¬
dern auch das einzig Verſtändliche im ganzen Umfang
des Daſeins iſt. Für eine Menſchenſeele, die mit
unſerer Seele harmoniſch zuſammenklingt, werfen wir
freudig all' den Plunder fort, mit dem wir, in Er¬
mangelung dieſes höchſten Glücks, das Einerlei der
Stunden auszufüllen ſuchten. Und wenn dies ſchon
für den Mann gilt, ſo gilt es doppelt und dreifach
11*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 1. Berlin, 1861, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische01_1861/173>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.