er nur einen Blick in ihr Gesicht geworfen hätte, er würde vor Scham haben vergehen müssen. Melitta antwortete nicht; sie weinte auch nicht, sie blickte nur starr vor sich hin, als könne sie das Ungeheure nicht begreifen, daß die Hand, die zu küssen sie sich nieder¬ beugte, sie in's Antlitz geschlagen; daß der Fuß, den mit Narden zu salben, sie niedergekniet war, sie grau¬ sam zurückgestoßen habe... Wie hatte sie sich gefreut auf diesen Abend, wie schön hatte sie es sich gedacht, mitten im Lärm der Gesellschaft allein zu sein mit dem Geliebten, seinen Worten zu lauschen, seine Hand verstohlen zu drücken, und während hübsche Frauen und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in seinen Augen zu lesen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta! Und über diesen Abend hinaus hatte eine rosige Zu¬ kunft sich vor ihren Blicken aufgethan -- ein Land der Hoffnung -- nicht in deutlichen Umrissen, aber voll Ruhe und Liebe und Sonnenschein... Aber da hatte sich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein grauer giftiger Nebel, und hatte das sonnige Land der Zukunft immer dichter und dichter verschleiert... Und jetzt erschien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz des Geliebten wie von Haß verzerrt, und seine Stimme drang seltsam fremd zu ihrem Ohr. War das sein Antlitz? war das seine Stimme, die jetzt die Worte
er nur einen Blick in ihr Geſicht geworfen hätte, er würde vor Scham haben vergehen müſſen. Melitta antwortete nicht; ſie weinte auch nicht, ſie blickte nur ſtarr vor ſich hin, als könne ſie das Ungeheure nicht begreifen, daß die Hand, die zu küſſen ſie ſich nieder¬ beugte, ſie in's Antlitz geſchlagen; daß der Fuß, den mit Narden zu ſalben, ſie niedergekniet war, ſie grau¬ ſam zurückgeſtoßen habe... Wie hatte ſie ſich gefreut auf dieſen Abend, wie ſchön hatte ſie es ſich gedacht, mitten im Lärm der Geſellſchaft allein zu ſein mit dem Geliebten, ſeinen Worten zu lauſchen, ſeine Hand verſtohlen zu drücken, und während hübſche Frauen und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in ſeinen Augen zu leſen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta! Und über dieſen Abend hinaus hatte eine roſige Zu¬ kunft ſich vor ihren Blicken aufgethan — ein Land der Hoffnung — nicht in deutlichen Umriſſen, aber voll Ruhe und Liebe und Sonnenſchein... Aber da hatte ſich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein grauer giftiger Nebel, und hatte das ſonnige Land der Zukunft immer dichter und dichter verſchleiert... Und jetzt erſchien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz des Geliebten wie von Haß verzerrt, und ſeine Stimme drang ſeltſam fremd zu ihrem Ohr. War das ſein Antlitz? war das ſeine Stimme, die jetzt die Worte
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er nur einen Blick in ihr Geſicht geworfen hätte, er
würde vor Scham haben vergehen müſſen. Melitta
antwortete nicht; ſie weinte auch nicht, ſie blickte nur
ſtarr vor ſich hin, als könne ſie das Ungeheure nicht
begreifen, daß die Hand, die zu küſſen ſie ſich nieder¬
beugte, ſie in's Antlitz geſchlagen; daß der Fuß, den
mit Narden zu ſalben, ſie niedergekniet war, ſie grau¬
ſam zurückgeſtoßen habe... Wie hatte ſie ſich gefreut
auf dieſen Abend, wie ſchön hatte ſie es ſich gedacht,
mitten im Lärm der Geſellſchaft allein zu ſein mit
dem Geliebten, ſeinen Worten zu lauſchen, ſeine Hand
verſtohlen zu drücken, und während hübſche Frauen
und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in ſeinen
Augen zu leſen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta!
Und über dieſen Abend hinaus hatte eine roſige Zu¬
kunft ſich vor ihren Blicken aufgethan — ein Land
der Hoffnung — nicht in deutlichen Umriſſen, aber
voll Ruhe und Liebe und Sonnenſchein... Aber da
hatte ſich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein
grauer giftiger Nebel, und hatte das ſonnige Land der
Zukunft immer dichter und dichter verſchleiert... Und
jetzt erſchien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz
des Geliebten wie von Haß verzerrt, und ſeine Stimme
drang ſeltſam fremd zu ihrem Ohr. War das ſein
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/89>, abgerufen am 23.11.2024.
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