Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

er nur einen Blick in ihr Gesicht geworfen hätte, er
würde vor Scham haben vergehen müssen. Melitta
antwortete nicht; sie weinte auch nicht, sie blickte nur
starr vor sich hin, als könne sie das Ungeheure nicht
begreifen, daß die Hand, die zu küssen sie sich nieder¬
beugte, sie in's Antlitz geschlagen; daß der Fuß, den
mit Narden zu salben, sie niedergekniet war, sie grau¬
sam zurückgestoßen habe... Wie hatte sie sich gefreut
auf diesen Abend, wie schön hatte sie es sich gedacht,
mitten im Lärm der Gesellschaft allein zu sein mit
dem Geliebten, seinen Worten zu lauschen, seine Hand
verstohlen zu drücken, und während hübsche Frauen
und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in seinen
Augen zu lesen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta!
Und über diesen Abend hinaus hatte eine rosige Zu¬
kunft sich vor ihren Blicken aufgethan -- ein Land
der Hoffnung -- nicht in deutlichen Umrissen, aber
voll Ruhe und Liebe und Sonnenschein... Aber da
hatte sich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein
grauer giftiger Nebel, und hatte das sonnige Land der
Zukunft immer dichter und dichter verschleiert... Und
jetzt erschien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz
des Geliebten wie von Haß verzerrt, und seine Stimme
drang seltsam fremd zu ihrem Ohr. War das sein
Antlitz? war das seine Stimme, die jetzt die Worte

er nur einen Blick in ihr Geſicht geworfen hätte, er
würde vor Scham haben vergehen müſſen. Melitta
antwortete nicht; ſie weinte auch nicht, ſie blickte nur
ſtarr vor ſich hin, als könne ſie das Ungeheure nicht
begreifen, daß die Hand, die zu küſſen ſie ſich nieder¬
beugte, ſie in's Antlitz geſchlagen; daß der Fuß, den
mit Narden zu ſalben, ſie niedergekniet war, ſie grau¬
ſam zurückgeſtoßen habe... Wie hatte ſie ſich gefreut
auf dieſen Abend, wie ſchön hatte ſie es ſich gedacht,
mitten im Lärm der Geſellſchaft allein zu ſein mit
dem Geliebten, ſeinen Worten zu lauſchen, ſeine Hand
verſtohlen zu drücken, und während hübſche Frauen
und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in ſeinen
Augen zu leſen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta!
Und über dieſen Abend hinaus hatte eine roſige Zu¬
kunft ſich vor ihren Blicken aufgethan — ein Land
der Hoffnung — nicht in deutlichen Umriſſen, aber
voll Ruhe und Liebe und Sonnenſchein... Aber da
hatte ſich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein
grauer giftiger Nebel, und hatte das ſonnige Land der
Zukunft immer dichter und dichter verſchleiert... Und
jetzt erſchien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz
des Geliebten wie von Haß verzerrt, und ſeine Stimme
drang ſeltſam fremd zu ihrem Ohr. War das ſein
Antlitz? war das ſeine Stimme, die jetzt die Worte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0089" n="79"/>
er nur einen Blick in ihr Ge&#x017F;icht geworfen hätte, er<lb/>
würde vor Scham haben vergehen mü&#x017F;&#x017F;en. Melitta<lb/>
antwortete nicht; &#x017F;ie weinte auch nicht, &#x017F;ie blickte nur<lb/>
&#x017F;tarr vor &#x017F;ich hin, als könne &#x017F;ie das Ungeheure nicht<lb/>
begreifen, daß die Hand, die zu kü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie &#x017F;ich nieder¬<lb/>
beugte, &#x017F;ie in's Antlitz ge&#x017F;chlagen; daß der Fuß, den<lb/>
mit Narden zu &#x017F;alben, &#x017F;ie niedergekniet war, &#x017F;ie grau¬<lb/>
&#x017F;am zurückge&#x017F;toßen habe... Wie hatte &#x017F;ie &#x017F;ich gefreut<lb/>
auf die&#x017F;en Abend, wie &#x017F;chön hatte &#x017F;ie es &#x017F;ich gedacht,<lb/>
mitten im Lärm der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft allein zu &#x017F;ein mit<lb/>
dem Geliebten, &#x017F;einen Worten zu lau&#x017F;chen, &#x017F;eine Hand<lb/>
ver&#x017F;tohlen zu drücken, und während hüb&#x017F;che Frauen<lb/>
und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in &#x017F;einen<lb/>
Augen zu le&#x017F;en: Ich liebe doch nur Dich, Melitta!<lb/>
Und über die&#x017F;en Abend hinaus hatte eine ro&#x017F;ige Zu¬<lb/>
kunft &#x017F;ich vor ihren Blicken aufgethan &#x2014; ein Land<lb/>
der Hoffnung &#x2014; nicht in deutlichen Umri&#x017F;&#x017F;en, aber<lb/>
voll Ruhe und Liebe und Sonnen&#x017F;chein... Aber da<lb/>
hatte &#x017F;ich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein<lb/>
grauer giftiger Nebel, und hatte das &#x017F;onnige Land der<lb/>
Zukunft immer dichter und dichter ver&#x017F;chleiert... Und<lb/>
jetzt er&#x017F;chien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz<lb/>
des Geliebten wie von Haß verzerrt, und &#x017F;eine Stimme<lb/>
drang &#x017F;elt&#x017F;am fremd zu ihrem Ohr. War das &#x017F;ein<lb/>
Antlitz? war das &#x017F;eine Stimme, die jetzt die Worte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0089] er nur einen Blick in ihr Geſicht geworfen hätte, er würde vor Scham haben vergehen müſſen. Melitta antwortete nicht; ſie weinte auch nicht, ſie blickte nur ſtarr vor ſich hin, als könne ſie das Ungeheure nicht begreifen, daß die Hand, die zu küſſen ſie ſich nieder¬ beugte, ſie in's Antlitz geſchlagen; daß der Fuß, den mit Narden zu ſalben, ſie niedergekniet war, ſie grau¬ ſam zurückgeſtoßen habe... Wie hatte ſie ſich gefreut auf dieſen Abend, wie ſchön hatte ſie es ſich gedacht, mitten im Lärm der Geſellſchaft allein zu ſein mit dem Geliebten, ſeinen Worten zu lauſchen, ſeine Hand verſtohlen zu drücken, und während hübſche Frauen und reizende Mädchen mit ihm coquettirten, in ſeinen Augen zu leſen: Ich liebe doch nur Dich, Melitta! Und über dieſen Abend hinaus hatte eine roſige Zu¬ kunft ſich vor ihren Blicken aufgethan — ein Land der Hoffnung — nicht in deutlichen Umriſſen, aber voll Ruhe und Liebe und Sonnenſchein... Aber da hatte ſich ihre Vergangenheit herangewälzt, wie ein grauer giftiger Nebel, und hatte das ſonnige Land der Zukunft immer dichter und dichter verſchleiert... Und jetzt erſchien ihr durch den giftigen Nebel das Antlitz des Geliebten wie von Haß verzerrt, und ſeine Stimme drang ſeltſam fremd zu ihrem Ohr. War das ſein Antlitz? war das ſeine Stimme, die jetzt die Worte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/89
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 2. Berlin, 1861, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische02_1861/89>, abgerufen am 23.11.2024.