mende Briefe nachzusenden), und einen Tag später konnte die treue Seele schon einen Brief der vielge¬ liebten Herrin in Oswald's Hände legen. Es waren wenige Worte nur, auf der Reise, in einer Stadt Mitteldeutschlands, kurz vor dem Schlafengehen in einem Hotel geschrieben -- wenige Worte, verwirrt und traurig, aber süß und köstlich, wie Küsse von ge¬ liebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung . . . Er hatte Baumann seine Antwort mitgegeben und erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine durch¬ aus freudige war.
Es ist die Klage aller auf das Ideale gerichteten Geister, daß nichts auf Erden reinlich sei, und daß, so oft wir auch versuchen, in lichtere Regionen aufzu¬ steigen, uns ein peinlicher Erdenrest zu tragen bleibt, der uns sehr bald wieder auf das Niveau des ewig Gestrigen herabzieht.
Das hatte Oswald nun schon so oft in seinem Leben erfahren; es hatte ihn schon so viel Freuden vergällt, so viel gute Menschen und schlechte Musi¬ kanten verleidet, es drohte jetzt auch seiner Liebe ver¬ derblich zu werden. Erst hatte er an sich selbst die schlimme Entdeckung machen müssen, wie tief verbor¬ gen der Verrath in einem Herzen lauert, das sich
mende Briefe nachzuſenden), und einen Tag ſpäter konnte die treue Seele ſchon einen Brief der vielge¬ liebten Herrin in Oswald's Hände legen. Es waren wenige Worte nur, auf der Reiſe, in einer Stadt Mitteldeutſchlands, kurz vor dem Schlafengehen in einem Hotel geſchrieben — wenige Worte, verwirrt und traurig, aber ſüß und köſtlich, wie Küſſe von ge¬ liebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung . . . Er hatte Baumann ſeine Antwort mitgegeben und erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine durch¬ aus freudige war.
Es iſt die Klage aller auf das Ideale gerichteten Geiſter, daß nichts auf Erden reinlich ſei, und daß, ſo oft wir auch verſuchen, in lichtere Regionen aufzu¬ ſteigen, uns ein peinlicher Erdenreſt zu tragen bleibt, der uns ſehr bald wieder auf das Niveau des ewig Geſtrigen herabzieht.
Das hatte Oswald nun ſchon ſo oft in ſeinem Leben erfahren; es hatte ihn ſchon ſo viel Freuden vergällt, ſo viel gute Menſchen und ſchlechte Muſi¬ kanten verleidet, es drohte jetzt auch ſeiner Liebe ver¬ derblich zu werden. Erſt hatte er an ſich ſelbſt die ſchlimme Entdeckung machen müſſen, wie tief verbor¬ gen der Verrath in einem Herzen lauert, das ſich
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mende Briefe nachzuſenden), und einen Tag ſpäter
konnte die treue Seele ſchon einen Brief der vielge¬
liebten Herrin in Oswald's Hände legen. Es waren
wenige Worte nur, auf der Reiſe, in einer Stadt
Mitteldeutſchlands, kurz vor dem Schlafengehen in
einem Hotel geſchrieben — wenige Worte, verwirrt
und traurig, aber ſüß und köſtlich, wie Küſſe von ge¬
liebten Lippen in dem Augenblicke der Trauung . . .
Er hatte Baumann ſeine Antwort mitgegeben und
erwartete nun täglich einen zweiten ausführlicheren
Brief mit einer Ungeduld, die keineswegs eine durch¬
aus freudige war.
Es iſt die Klage aller auf das Ideale gerichteten
Geiſter, daß nichts auf Erden reinlich ſei, und daß,
ſo oft wir auch verſuchen, in lichtere Regionen aufzu¬
ſteigen, uns ein peinlicher Erdenreſt zu tragen bleibt,
der uns ſehr bald wieder auf das Niveau des ewig
Geſtrigen herabzieht.
Das hatte Oswald nun ſchon ſo oft in ſeinem
Leben erfahren; es hatte ihn ſchon ſo viel Freuden
vergällt, ſo viel gute Menſchen und ſchlechte Muſi¬
kanten verleidet, es drohte jetzt auch ſeiner Liebe ver¬
derblich zu werden. Erſt hatte er an ſich ſelbſt die
ſchlimme Entdeckung machen müſſen, wie tief verbor¬
gen der Verrath in einem Herzen lauert, das ſich
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/113>, abgerufen am 17.07.2024.
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