"Na, auf eine halbe Stunde kommt es schon nicht an," sagte der alte Baumann, sein Pferd besteigend. "Die Post geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich wünsche nochmals wohlschlafende Nacht."
Der alte Mann faßte salutirend an seine Mütze, lenkte den Brownlock herum und trabte durch die Tannen zurück nach Berkow.
Oswald eilte auf seine Stube, ohne Jemand zu begegnen, da die Gesellschaft von ihrem Spaziergang noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete er den Brief und durchflog ihn mit athemloser Hast, um ihn dann langsam wieder und wieder zu lesen, wie man Briefe liest, von denen jedes einzelne Wort uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.
Als er sich spät am Abend hinsetzte, die Antwort zu schreiben, ertönte derselbe Gesang, der ihn gestern Abend in so überschwängliche Begeisterung versetzt hatte; heute aber schloß er das Fenster, denn er fühlte, daß seine Bewunderung für das schöne Mäd¬ chen doch im Grunde ein Verrath an seiner Liebe zu Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menschen¬ weise, die anklagende Stimme seines Gewissens mög¬ lichst zu überhören versuchte.
„Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht an,“ ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend. „Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.“
Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze, lenkte den Brownlock herum und trabte durch die Tannen zurück nach Berkow.
Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt, um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen, wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.
Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬ chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬ weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬ lichſt zu überhören verſuchte.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0168"n="158"/><p>„Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht<lb/>
an,“ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend.<lb/>„Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin<lb/>
ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich<lb/>
wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.“</p><lb/><p>Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze,<lb/>
lenkte den Brownlock herum und trabte durch die<lb/>
Tannen zurück nach Berkow.</p><lb/><p>Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu<lb/>
begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang<lb/>
noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete<lb/>
er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt,<lb/>
um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen,<lb/>
wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort<lb/>
uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.</p><lb/><p>Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort<lb/>
zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern<lb/>
Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt<lb/>
hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er<lb/>
fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬<lb/>
chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu<lb/>
Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬<lb/>
weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬<lb/>
lichſt zu überhören verſuchte.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[158/0168]
„Na, auf eine halbe Stunde kommt es ſchon nicht
an,“ ſagte der alte Baumann, ſein Pferd beſteigend.
„Die Poſt geht nicht vor acht Uhr, und bis dahin bin
ich mit dem Brownlock zweimal hin und zurück. Ich
wünſche nochmals wohlſchlafende Nacht.“
Der alte Mann faßte ſalutirend an ſeine Mütze,
lenkte den Brownlock herum und trabte durch die
Tannen zurück nach Berkow.
Oswald eilte auf ſeine Stube, ohne Jemand zu
begegnen, da die Geſellſchaft von ihrem Spaziergang
noch nicht zurück war. Mit zitternder Hand öffnete
er den Brief und durchflog ihn mit athemloſer Haſt,
um ihn dann langſam wieder und wieder zu leſen,
wie man Briefe lieſt, von denen jedes einzelne Wort
uns berührt, wie ein Kuß von geliebten Lippen.
Als er ſich ſpät am Abend hinſetzte, die Antwort
zu ſchreiben, ertönte derſelbe Geſang, der ihn geſtern
Abend in ſo überſchwängliche Begeiſterung verſetzt
hatte; heute aber ſchloß er das Fenſter, denn er
fühlte, daß ſeine Bewunderung für das ſchöne Mäd¬
chen doch im Grunde ein Verrath an ſeiner Liebe zu
Melitta war, obgleich er natürlich, nach Menſchen¬
weiſe, die anklagende Stimme ſeines Gewiſſens mög¬
lichſt zu überhören verſuchte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/168>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.