Oswald fühlte, wie aus dem tiefsten Grunde seiner Seele, in den sein Auge noch nie gedrungen war, es aufstieg mit dämonischer Gewalt. Eine wilde Leiden¬ schaft, ein heißer Durst nach Rache, ein wahnsinniges Verlangen, zu zerstören, zu vernichten, erfaßte ihn; der ganze fanatische Haß gegen den Adel, den er als Knabe empfunden, wenn er seinem Vater in dem Garten hinter der Stadtmauer die Pistolen lud, mit denen jener auf die Asse schoß, die eben so viele Her¬ zen von Adligen bedeuteten; wenn er auf der Schul¬ bank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier las, oder auf seiner Stube die thränenreiche Geschichte der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen! Hier in diesem Schlosse, vielleicht in denselben Zim¬ mern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adliger Grausamkeit verblutet; hier hatte die arme unglück¬ liche, schöne Marie mit tausend heißen Thränen die Thorheit bezahlt, den Worten des adligen Verführers geglaubt zu haben.
Sie war als Opfer gefallen, denn sie war ein schwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen, Thränen, die kein Erbarmen fanden. Diese Thränen waren noch nicht gesühnt. Wie? wenn er als Rächer für sie aufstände, wenn er diese Thränen eines Bür¬ germädchens sühnte in dem Blut eines Adligen? . . .
Oswald fühlte, wie aus dem tiefſten Grunde ſeiner Seele, in den ſein Auge noch nie gedrungen war, es aufſtieg mit dämoniſcher Gewalt. Eine wilde Leiden¬ ſchaft, ein heißer Durſt nach Rache, ein wahnſinniges Verlangen, zu zerſtören, zu vernichten, erfaßte ihn; der ganze fanatiſche Haß gegen den Adel, den er als Knabe empfunden, wenn er ſeinem Vater in dem Garten hinter der Stadtmauer die Piſtolen lud, mit denen jener auf die Aſſe ſchoß, die eben ſo viele Her¬ zen von Adligen bedeuteten; wenn er auf der Schul¬ bank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier las, oder auf ſeiner Stube die thränenreiche Geſchichte der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen! Hier in dieſem Schloſſe, vielleicht in denſelben Zim¬ mern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adliger Grauſamkeit verblutet; hier hatte die arme unglück¬ liche, ſchöne Marie mit tauſend heißen Thränen die Thorheit bezahlt, den Worten des adligen Verführers geglaubt zu haben.
Sie war als Opfer gefallen, denn ſie war ein ſchwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen, Thränen, die kein Erbarmen fanden. Dieſe Thränen waren noch nicht geſühnt. Wie? wenn er als Rächer für ſie aufſtände, wenn er dieſe Thränen eines Bür¬ germädchens ſühnte in dem Blut eines Adligen? . . .
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Oswald fühlte, wie aus dem tiefſten Grunde ſeiner
Seele, in den ſein Auge noch nie gedrungen war, es
aufſtieg mit dämoniſcher Gewalt. Eine wilde Leiden¬
ſchaft, ein heißer Durſt nach Rache, ein wahnſinniges
Verlangen, zu zerſtören, zu vernichten, erfaßte ihn;
der ganze fanatiſche Haß gegen den Adel, den er als
Knabe empfunden, wenn er ſeinem Vater in dem
Garten hinter der Stadtmauer die Piſtolen lud, mit
denen jener auf die Aſſe ſchoß, die eben ſo viele Her¬
zen von Adligen bedeuteten; wenn er auf der Schul¬
bank im Livius von dem Uebermuth der Tarquinier
las, oder auf ſeiner Stube die thränenreiche Geſchichte
der Emilia Galotti. Und das waren keine Märchen!
Hier in dieſem Schloſſe, vielleicht in denſelben Zim¬
mern, die er jetzt bewohnte, war ein Opfer adliger
Grauſamkeit verblutet; hier hatte die arme unglück¬
liche, ſchöne Marie mit tauſend heißen Thränen die
Thorheit bezahlt, den Worten des adligen Verführers
geglaubt zu haben.
Sie war als Opfer gefallen, denn ſie war ein
ſchwaches Weib, und Thränen waren ihre Waffen,
Thränen, die kein Erbarmen fanden. Dieſe Thränen
waren noch nicht geſühnt. Wie? wenn er als Rächer
für ſie aufſtände, wenn er dieſe Thränen eines Bür¬
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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 3. Berlin, 1861, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische03_1861/64>, abgerufen am 16.07.2024.
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