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Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

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der Mutter stattgefunden hatte, war nur eine schein¬
bare gewesen. Nie stehen sich zwei Wesen schroffer
gegenüber, als wenn sie, mit der gleichen Energie,
mit derselben Kraft des Willens und Vollbringens
ausgestattet, nach verschiedenen Zielen streben. Zwi¬
schen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte
und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht
übertriebenen, immer aber hochsinnigen Idealismus
huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung
möglich.

Das sprach auch Helene wiederholt in den Briefen
aus, welche sie jetzt häufig an ihre liebste Freundin
und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Ham¬
burg schrieb. "Dearest Mary," hieß es in einem
derselben, "wie oft hast Du Dich über das grausame
Geschick beklagt, welches Dich mit Reichthum über¬
schüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern,
Geschwister, Cousins und Cousinen -- alle jene Freunde
und Freundinnen, die uns die Natur selbst mit auf
den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mäd¬
chen, es giebt noch ein schlimmeres Loos, als das
Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken
erfaßt, allein dazustehen in der Welt, ist nicht ohne
eine gewisse Süßigkeit. Wie oft sprachst Du mit
Entzücken von Deinem Bruder Harry, der Dir in

der Mutter ſtattgefunden hatte, war nur eine ſchein¬
bare geweſen. Nie ſtehen ſich zwei Weſen ſchroffer
gegenüber, als wenn ſie, mit der gleichen Energie,
mit derſelben Kraft des Willens und Vollbringens
ausgeſtattet, nach verſchiedenen Zielen ſtreben. Zwi¬
ſchen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte
und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht
übertriebenen, immer aber hochſinnigen Idealismus
huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung
möglich.

Das ſprach auch Helene wiederholt in den Briefen
aus, welche ſie jetzt häufig an ihre liebſte Freundin
und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Ham¬
burg ſchrieb. „Dearest Mary,“ hieß es in einem
derſelben, „wie oft haſt Du Dich über das grauſame
Geſchick beklagt, welches Dich mit Reichthum über¬
ſchüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern,
Geſchwiſter, Couſins und Couſinen — alle jene Freunde
und Freundinnen, die uns die Natur ſelbſt mit auf
den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mäd¬
chen, es giebt noch ein ſchlimmeres Loos, als das
Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken
erfaßt, allein dazuſtehen in der Welt, iſt nicht ohne
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[123/0133] der Mutter ſtattgefunden hatte, war nur eine ſchein¬ bare geweſen. Nie ſtehen ſich zwei Weſen ſchroffer gegenüber, als wenn ſie, mit der gleichen Energie, mit derſelben Kraft des Willens und Vollbringens ausgeſtattet, nach verſchiedenen Zielen ſtreben. Zwi¬ ſchen der Baronin, die nur weltliche Zwecke kannte und verfolgte, und ihrer Tochter, die einem vielleicht übertriebenen, immer aber hochſinnigen Idealismus huldigte, war auf die Dauer keine Vereinigung möglich. Das ſprach auch Helene wiederholt in den Briefen aus, welche ſie jetzt häufig an ihre liebſte Freundin und einzige Vertraute, Miß Mary Burton, nach Ham¬ burg ſchrieb. „Dearest Mary,“ hieß es in einem derſelben, „wie oft haſt Du Dich über das grauſame Geſchick beklagt, welches Dich mit Reichthum über¬ ſchüttete, um Dir alle Verwandte zu rauben, Eltern, Geſchwiſter, Couſins und Couſinen — alle jene Freunde und Freundinnen, die uns die Natur ſelbſt mit auf den Lebensweg giebt. Aber, glaube mir, liebes Mäd¬ chen, es giebt noch ein ſchlimmeres Loos, als das Deine. Die Wehmuth, die Dich bei dem Gedanken erfaßt, allein dazuſtehen in der Welt, iſt nicht ohne eine gewiſſe Süßigkeit. Wie oft ſprachſt Du mit Entzücken von Deinem Bruder Harry, der Dir in

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Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/133>, abgerufen am 17.06.2024.