Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den
eigentlichen Kern des Geheimnisses, das der Knabe in
der tiefsten Tiefe seines Herzens vor Jedem, vielleicht
vor sich selbst, scheu verbarg, entdeckte er doch nicht.
Es ist eine bekannte Erfahrung, daß selbst kluge Men¬
schen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬
rade am nächsten stehen, oft die wunderlichsten Fehl¬
schlüsse machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬
fangenen, vielleicht lange nicht so scharfsichtigen Auge
des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind sind. Das
ist nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬
zählt, daß sein Sohn einen schlechten Streich begangen
hat; das ist nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn
man ihm mittheilt, daß seine Schwester sich mit sei¬
nem besten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in
diesen Verhältnissen die Liebe, bald die Abneigung
blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder,
welches unter unsern Augen vor sich geht, dort eine
edle Scham, welche uns den Blick niederschlagen
macht, eine Wange nicht zu sehen, die ihr Erröthen
sonst nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet
gilt nichts in seinem Vaterlande, und in den aller¬
meisten Fällen ist das Herz des Bruders dem Bruder
ein Buch mit sieben Siegeln.

So war es auch in diesem Fall. Oswald tröstete

wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den
eigentlichen Kern des Geheimniſſes, das der Knabe in
der tiefſten Tiefe ſeines Herzens vor Jedem, vielleicht
vor ſich ſelbſt, ſcheu verbarg, entdeckte er doch nicht.
Es iſt eine bekannte Erfahrung, daß ſelbſt kluge Men¬
ſchen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬
rade am nächſten ſtehen, oft die wunderlichſten Fehl¬
ſchlüſſe machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬
fangenen, vielleicht lange nicht ſo ſcharfſichtigen Auge
des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind ſind. Das
iſt nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬
zählt, daß ſein Sohn einen ſchlechten Streich begangen
hat; das iſt nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn
man ihm mittheilt, daß ſeine Schweſter ſich mit ſei¬
nem beſten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in
dieſen Verhältniſſen die Liebe, bald die Abneigung
blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder,
welches unter unſern Augen vor ſich geht, dort eine
edle Scham, welche uns den Blick niederſchlagen
macht, eine Wange nicht zu ſehen, die ihr Erröthen
ſonſt nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet
gilt nichts in ſeinem Vaterlande, und in den aller¬
meiſten Fällen iſt das Herz des Bruders dem Bruder
ein Buch mit ſieben Siegeln.

So war es auch in dieſem Fall. Oswald tröſtete

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0185" n="175"/>
wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den<lb/>
eigentlichen Kern des Geheimni&#x017F;&#x017F;es, das der Knabe in<lb/>
der tief&#x017F;ten Tiefe &#x017F;eines Herzens vor Jedem, vielleicht<lb/>
vor &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, &#x017F;cheu verbarg, entdeckte er doch nicht.<lb/>
Es i&#x017F;t eine bekannte Erfahrung, daß &#x017F;elb&#x017F;t kluge Men¬<lb/>
&#x017F;chen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬<lb/>
rade am näch&#x017F;ten &#x017F;tehen, oft die wunderlich&#x017F;ten Fehl¬<lb/>
&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬<lb/>
fangenen, vielleicht lange nicht &#x017F;o &#x017F;charf&#x017F;ichtigen Auge<lb/>
des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind &#x017F;ind. Das<lb/>
i&#x017F;t nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬<lb/>
zählt, daß &#x017F;ein Sohn einen &#x017F;chlechten Streich begangen<lb/>
hat; das i&#x017F;t nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn<lb/>
man ihm mittheilt, daß &#x017F;eine Schwe&#x017F;ter &#x017F;ich mit &#x017F;ei¬<lb/>
nem be&#x017F;ten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in<lb/>
die&#x017F;en Verhältni&#x017F;&#x017F;en die Liebe, bald die Abneigung<lb/>
blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder,<lb/>
welches unter un&#x017F;ern Augen vor &#x017F;ich geht, dort eine<lb/>
edle Scham, welche uns den Blick nieder&#x017F;chlagen<lb/>
macht, eine Wange nicht zu &#x017F;ehen, die ihr Erröthen<lb/>
&#x017F;on&#x017F;t nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet<lb/>
gilt nichts in &#x017F;einem Vaterlande, und in den aller¬<lb/>
mei&#x017F;ten Fällen i&#x017F;t das Herz des Bruders dem Bruder<lb/>
ein Buch mit &#x017F;ieben Siegeln.</p><lb/>
        <p>So war es auch in die&#x017F;em Fall. Oswald trö&#x017F;tete<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[175/0185] wie nahe er auch manchmal der Wahrheit kam, den eigentlichen Kern des Geheimniſſes, das der Knabe in der tiefſten Tiefe ſeines Herzens vor Jedem, vielleicht vor ſich ſelbſt, ſcheu verbarg, entdeckte er doch nicht. Es iſt eine bekannte Erfahrung, daß ſelbſt kluge Men¬ ſchen in der Beurtheilung derer, welchen ihnen ge¬ rade am nächſten ſtehen, oft die wunderlichſten Fehl¬ ſchlüſſe machen, und gegen Vieles, was dem unbe¬ fangenen, vielleicht lange nicht ſo ſcharfſichtigen Auge des Dritten nicht entgeht, vollkommen blind ſind. Das iſt nicht möglich! ruft ein Vater, wenn man ihm er¬ zählt, daß ſein Sohn einen ſchlechten Streich begangen hat; das iſt nicht möglich! ruft ein Bruder, wenn man ihm mittheilt, daß ſeine Schweſter ſich mit ſei¬ nem beſten Freunde verlobt hat. Bald macht uns in dieſen Verhältniſſen die Liebe, bald die Abneigung blind; hier die Gleichgültigkeit gegen ein Wunder, welches unter unſern Augen vor ſich geht, dort eine edle Scham, welche uns den Blick niederſchlagen macht, eine Wange nicht zu ſehen, die ihr Erröthen ſonſt nicht vor uns verbergen könnte. Der Prophet gilt nichts in ſeinem Vaterlande, und in den aller¬ meiſten Fällen iſt das Herz des Bruders dem Bruder ein Buch mit ſieben Siegeln. So war es auch in dieſem Fall. Oswald tröſtete

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/185
Zitationshilfe: Spielhagen, Friedrich: Problematische Naturen. Bd. 4. Berlin, 1861, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spielhagen_problematische04_1861/185>, abgerufen am 14.08.2024.