kommnem Verstande, sie beantwortete jede Frage richtig, und schien sich des Todes ihres Vaters gar nicht mehr zu erinnern, sie beschäftigte sich stets mit ihrem Kinde, und lächelte wonnevoll, wenn sie es anblicken konnte. Auf diese Art durchlebte sie zwei glückliche Tage, die Taufe des Kindes war für die ganze Gemeinde ein Fest, alle Hausväter und Mütter standen ihm zu Ge- vatter, und erneuerten den Bund, Mutter und Kind bis an ihren Tod zu ernähren. Man hatte das Mädchen in der Taufe Wilhelmine genannt, als man es der Mutter erzählte, forschte sie so- gleich nach Briefen von ihrem Wilhelm, da man ihr keine bringen konnte, so weinte sie den ganzen Abend, und nannte ihr Kind eine vaterlose Wai- se. In der folgenden Nacht schlief sie ruhig, sprach aber am andern Morgen schon wieder irre, dann und wann blickte, gleich der untergehenden Sonne, ihr Verstand noch empor, aber bald sank er, gleich dieser, in die Dunkelheit hinab, und gieng nie mehr auf. Ihr Wahnsinn hatte sich auf die glücklichste Art geändert, sie wähnte mit ihrem Kinde im Himmel zu seyn, und glaubte alle Freuden desselben zu genießen. Sie sprach täglich mit Gott und seinen Engeln, ihre Einbil- dungskraft verwandelte einen Trunk frisches Was- ser in Nektar, und ein Stückchen Brod in Him- melsmanna. Die Gemeinde, welche noch immer auf Rettung hofte, brauchte den Arzt auf's neue, aber er erklärte ihren Wahnsinn sogleich für un-
kommnem Verſtande, ſie beantwortete jede Frage richtig, und ſchien ſich des Todes ihres Vaters gar nicht mehr zu erinnern, ſie beſchaͤftigte ſich ſtets mit ihrem Kinde, und laͤchelte wonnevoll, wenn ſie es anblicken konnte. Auf dieſe Art durchlebte ſie zwei gluͤckliche Tage, die Taufe des Kindes war fuͤr die ganze Gemeinde ein Feſt, alle Hausvaͤter und Muͤtter ſtanden ihm zu Ge- vatter, und erneuerten den Bund, Mutter und Kind bis an ihren Tod zu ernaͤhren. Man hatte das Maͤdchen in der Taufe Wilhelmine genannt, als man es der Mutter erzaͤhlte, forſchte ſie ſo- gleich nach Briefen von ihrem Wilhelm, da man ihr keine bringen konnte, ſo weinte ſie den ganzen Abend, und nannte ihr Kind eine vaterloſe Wai- ſe. In der folgenden Nacht ſchlief ſie ruhig, ſprach aber am andern Morgen ſchon wieder irre, dann und wann blickte, gleich der untergehenden Sonne, ihr Verſtand noch empor, aber bald ſank er, gleich dieſer, in die Dunkelheit hinab, und gieng nie mehr auf. Ihr Wahnſinn hatte ſich auf die gluͤcklichſte Art geaͤndert, ſie waͤhnte mit ihrem Kinde im Himmel zu ſeyn, und glaubte alle Freuden deſſelben zu genießen. Sie ſprach taͤglich mit Gott und ſeinen Engeln, ihre Einbil- dungskraft verwandelte einen Trunk friſches Waſ- ſer in Nektar, und ein Stuͤckchen Brod in Him- melsmanna. Die Gemeinde, welche noch immer auf Rettung hofte, brauchte den Arzt auf's neue, aber er erklaͤrte ihren Wahnſinn ſogleich fuͤr un-
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kommnem Verſtande, ſie beantwortete jede Frage
richtig, und ſchien ſich des Todes ihres Vaters
gar nicht mehr zu erinnern, ſie beſchaͤftigte ſich
ſtets mit ihrem Kinde, und laͤchelte wonnevoll,
wenn ſie es anblicken konnte. Auf dieſe Art
durchlebte ſie zwei gluͤckliche Tage, die Taufe des
Kindes war fuͤr die ganze Gemeinde ein Feſt,
alle Hausvaͤter und Muͤtter ſtanden ihm zu Ge-
vatter, und erneuerten den Bund, Mutter und
Kind bis an ihren Tod zu ernaͤhren. Man hatte
das Maͤdchen in der Taufe Wilhelmine genannt,
als man es der Mutter erzaͤhlte, forſchte ſie ſo-
gleich nach Briefen von ihrem Wilhelm, da man
ihr keine bringen konnte, ſo weinte ſie den ganzen
Abend, und nannte ihr Kind eine vaterloſe Wai-
ſe. In der folgenden Nacht ſchlief ſie ruhig,
ſprach aber am andern Morgen ſchon wieder irre,
dann und wann blickte, gleich der untergehenden
Sonne, ihr Verſtand noch empor, aber bald ſank
er, gleich dieſer, in die Dunkelheit hinab, und
gieng nie mehr auf. Ihr Wahnſinn hatte ſich
auf die gluͤcklichſte Art geaͤndert, ſie waͤhnte mit
ihrem Kinde im Himmel zu ſeyn, und glaubte
alle Freuden deſſelben zu genießen. Sie ſprach
taͤglich mit Gott und ſeinen Engeln, ihre Einbil-
dungskraft verwandelte einen Trunk friſches Waſ-
ſer in Nektar, und ein Stuͤckchen Brod in Him-
melsmanna. Die Gemeinde, welche noch immer
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/100>, abgerufen am 16.02.2025.
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