werden lassen, aber er hört meine Stimme nicht, er ist taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich habe ich ihn sehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn sonst versöhnen! Oder ist der Mutterfluch unaus- löschbar? Das mag's seyn, mich drückt er we- nigstens schrecklich.
Ich. Ich nehme den innigsten Antheil an Ihrem Unglücke, stünde es in meiner Macht, es zu tilgen, nur zu mildern, ich würde alles an- wenden. -- --
Die Alte. Dank, edler Freund, Dank! Mitleid ist auch ein Allmosen, das des Elends Wunden salbt, und seine Schmerzen kühlt. Glau- ben Sie's fest, denn ich rede leider aus Erfah- rung. Ein Gulden, den mir ein gefühlloser Rei- cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge- drückt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach, Gott! was habe ich alles dulden und erfahren müssen!
Ich. Haben Sie denn gar keine Aussicht auf bessere Zeiten?
Die Alte. Keine, aber auf noch schlechtere desto sichere! Bald, recht bald werde ich nicht mehr kriechen können, und dann will ich doch se- hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde werden soll? Es steht zwar in der Bibel, daß Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die
jungen
werden laſſen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht, er iſt taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich habe ich ihn ſehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn ſonſt verſoͤhnen! Oder iſt der Mutterfluch unaus- loͤſchbar? Das mag's ſeyn, mich druͤckt er we- nigſtens ſchrecklich.
Ich. Ich nehme den innigſten Antheil an Ihrem Ungluͤcke, ſtuͤnde es in meiner Macht, es zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an- wenden. — —
Die Alte. Dank, edler Freund, Dank! Mitleid iſt auch ein Allmoſen, das des Elends Wunden ſalbt, und ſeine Schmerzen kuͤhlt. Glau- ben Sie's feſt, denn ich rede leider aus Erfah- rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloſer Rei- cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge- druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach, Gott! was habe ich alles dulden und erfahren muͤſſen!
Ich. Haben Sie denn gar keine Ausſicht auf beſſere Zeiten?
Die Alte. Keine, aber auf noch ſchlechtere deſto ſichere! Bald, recht bald werde ich nicht mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch ſe- hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde werden ſoll? Es ſteht zwar in der Bibel, daß Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die
jungen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0174"n="160"/>
werden laſſen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht,<lb/>
er iſt taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich<lb/>
habe ich ihn ſehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn<lb/>ſonſt verſoͤhnen! Oder iſt der Mutterfluch unaus-<lb/>
loͤſchbar? Das mag's ſeyn, mich druͤckt er we-<lb/>
nigſtens ſchrecklich.</p><lb/><p><hirendition="#g">Ich</hi>. Ich nehme den innigſten Antheil an<lb/>
Ihrem Ungluͤcke, ſtuͤnde es in meiner Macht, es<lb/>
zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an-<lb/>
wenden. ——</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">Alte</hi>. Dank, edler Freund, Dank!<lb/>
Mitleid iſt auch ein Allmoſen, das des Elends<lb/>
Wunden ſalbt, und ſeine Schmerzen kuͤhlt. Glau-<lb/>
ben Sie's feſt, denn ich rede leider aus Erfah-<lb/>
rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloſer Rei-<lb/>
cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber<lb/>
ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge-<lb/>
druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach,<lb/>
Gott! was habe ich alles dulden und erfahren<lb/>
muͤſſen!</p><lb/><p><hirendition="#g">Ich</hi>. Haben Sie denn gar keine Ausſicht auf<lb/>
beſſere Zeiten?</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">Alte</hi>. Keine, aber auf noch ſchlechtere<lb/>
deſto ſichere! Bald, recht bald werde ich nicht<lb/>
mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch ſe-<lb/>
hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde<lb/>
werden ſoll? Es ſteht zwar in der Bibel, daß<lb/>
Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die<lb/><fwplace="bottom"type="catch">jungen</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[160/0174]
werden laſſen, aber er hoͤrt meine Stimme nicht,
er iſt taub gegen mein Flehen! Freilich, freilich
habe ich ihn ſehr beleidigt, doch kann ja Reue ihn
ſonſt verſoͤhnen! Oder iſt der Mutterfluch unaus-
loͤſchbar? Das mag's ſeyn, mich druͤckt er we-
nigſtens ſchrecklich.
Ich. Ich nehme den innigſten Antheil an
Ihrem Ungluͤcke, ſtuͤnde es in meiner Macht, es
zu tilgen, nur zu mildern, ich wuͤrde alles an-
wenden. — —
Die Alte. Dank, edler Freund, Dank!
Mitleid iſt auch ein Allmoſen, das des Elends
Wunden ſalbt, und ſeine Schmerzen kuͤhlt. Glau-
ben Sie's feſt, denn ich rede leider aus Erfah-
rung. Ein Gulden, den mir ein gefuͤhlloſer Rei-
cher zuwirft, verwundet allemal mein Herz, aber
ein Pfennig, der mir mitleidsvoll in die Hand ge-
druͤckt wird, thut ihm wohl. Ach, Gott! Ach,
Gott! was habe ich alles dulden und erfahren
muͤſſen!
Ich. Haben Sie denn gar keine Ausſicht auf
beſſere Zeiten?
Die Alte. Keine, aber auf noch ſchlechtere
deſto ſichere! Bald, recht bald werde ich nicht
mehr kriechen koͤnnen, und dann will ich doch ſe-
hen, was aus mir, aus meinem armen Kinde
werden ſoll? Es ſteht zwar in der Bibel, daß
Gott die Lilien auf dem Felde kleidet, und die
jungen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/174>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.