Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.und den sie mir mit in's Grab zu nehmen gebot. und den ſie mir mit in's Grab zu nehmen gebot. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0196" n="182"/> und den ſie mir mit in's Grab zu nehmen gebot.<lb/> Seit dieſer ſeligen, mir unvergeßlichen Stunde hat<lb/> mich vieles und graͤßliches Ungluͤck betroffen, ich<lb/> habe Noth und Elend im hoͤchſten Grade geduldet,<lb/> ich habe wochenlang gehungert, jahrelang gebet-<lb/> telt, und mich mit der elendeſten Koſt begnuͤgt,<lb/> aber nichts war vermoͤgend, mich zu bewegen,<lb/> den Willen der unvergeßlichen Monarchin zu verle-<lb/> tzen. Der Ring kann leicht einige tauſend Thaler<lb/> werth ſeyn, und dieſe koͤnnten mich jetzt reichlich<lb/> bis an meinen Tod ernaͤhren; aber ich habe den<lb/> Ring noch, und will ihn mit bis in mein Grab<lb/> nehmen! — Ehe die Alte noch dieſe Worte aus-<lb/> geſprochen hatte, zog ſie eine ſehr zerrißne Brief-<lb/> taſche aus ihrem Sacke hervor, und legte ſie auf<lb/> ihren Schooß; wie ſie ſolche oͤfnete, fiel ein Paͤck-<lb/> gen Briefe heraus. Das ſind meines Karls Brie-<lb/> fe, ſagte ſie ſeufzend, allzu haͤufige Thraͤnen ha-<lb/> ben jeden Buchſtaben verletzt, ich kann ſie jetzt ſelbſt<lb/> nicht mehr leſen, aber ſie ſind der einzige Ueberreſt<lb/> ſeiner Liebe, und mir deswegen eben ſo ſchaͤtzbar wie<lb/> dieſer Ring! Sie oͤfnete nun ein kleines Futteral,<lb/> und reichte mir einen Ring, uͤber deſſen Glanz ich<lb/> gleich beim erſten Anblicke erſtaunte. Es war ein<lb/> Solitair vom ſchoͤnſten, reinſten Feuer, beinahe<lb/> eine kleine Haſelnuß groß, <hi rendition="#aq">au jour</hi> gefaßt, und<lb/> ohne den geringſten Fehler. Ich bin kein aͤchter<lb/> Kenner des Edelgeſteins, aber ich habe doch in<lb/> meinem Leben ſo viele Brillanten geſehen, daß ich<lb/> aͤcht von falſch unterſcheiden, und alſo dreiſt be-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [182/0196]
und den ſie mir mit in's Grab zu nehmen gebot.
Seit dieſer ſeligen, mir unvergeßlichen Stunde hat
mich vieles und graͤßliches Ungluͤck betroffen, ich
habe Noth und Elend im hoͤchſten Grade geduldet,
ich habe wochenlang gehungert, jahrelang gebet-
telt, und mich mit der elendeſten Koſt begnuͤgt,
aber nichts war vermoͤgend, mich zu bewegen,
den Willen der unvergeßlichen Monarchin zu verle-
tzen. Der Ring kann leicht einige tauſend Thaler
werth ſeyn, und dieſe koͤnnten mich jetzt reichlich
bis an meinen Tod ernaͤhren; aber ich habe den
Ring noch, und will ihn mit bis in mein Grab
nehmen! — Ehe die Alte noch dieſe Worte aus-
geſprochen hatte, zog ſie eine ſehr zerrißne Brief-
taſche aus ihrem Sacke hervor, und legte ſie auf
ihren Schooß; wie ſie ſolche oͤfnete, fiel ein Paͤck-
gen Briefe heraus. Das ſind meines Karls Brie-
fe, ſagte ſie ſeufzend, allzu haͤufige Thraͤnen ha-
ben jeden Buchſtaben verletzt, ich kann ſie jetzt ſelbſt
nicht mehr leſen, aber ſie ſind der einzige Ueberreſt
ſeiner Liebe, und mir deswegen eben ſo ſchaͤtzbar wie
dieſer Ring! Sie oͤfnete nun ein kleines Futteral,
und reichte mir einen Ring, uͤber deſſen Glanz ich
gleich beim erſten Anblicke erſtaunte. Es war ein
Solitair vom ſchoͤnſten, reinſten Feuer, beinahe
eine kleine Haſelnuß groß, au jour gefaßt, und
ohne den geringſten Fehler. Ich bin kein aͤchter
Kenner des Edelgeſteins, aber ich habe doch in
meinem Leben ſo viele Brillanten geſehen, daß ich
aͤcht von falſch unterſcheiden, und alſo dreiſt be-
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