Ich. (mich fassend) Ja, ja! so lange wird's sicher seyn.
Die Alte. Gott, wie die Zeit verschwindet! Alles verschwindet, nur mein Unglück nicht; al- les ändert sich, nur mein Elend nicht! O Herr, das ist schrecklich!
Ich. Ja wohl, ja wohl! Sie erzählten mir damals die Geschichte Ihres Unglücks, wir wur- den gestört, ich wäre sehr begierig, sie jetzt ganz zu hören.
Die Alte. Von Herzen gerne! Ach! die Geschichte meines Lebens ist lehrreich für jeden, ich wollte, ich könnte sie von der Kanzel herab erzählen, sie würde mehr wirken und nützen als manche Predigt. Wie weit habe ich sie Ihnen denn erzählt?
Ehe ich antworten konnte, trat mein Kutscher zu mir, und bat mich heimlich, daß ich mich nicht mehr mit der Närrin abgeben möchte. Es könnte, meinte er, nicht immer so wie vorhin glücken, man hätte Beyspiele, daß solche Leute recht sanft und gut sprächen, aber mit einmal rasend würden, und jedem nach dem Leben trach- teten. Ich dankte für seinen wohlmeinenden Rath, und beruhigte ihn dadurch, daß ich mich in Acht zu nehmen versprach. Ganz Unrecht hatte er nicht, das sahe ich selbst ein, aber meine Neu- gierde war mächtiger als die Gefahr, welche mir drohen konnte. Ich überlegte nun, wie ich das
Ich. (mich faſſend) Ja, ja! ſo lange wird's ſicher ſeyn.
Die Alte. Gott, wie die Zeit verſchwindet! Alles verſchwindet, nur mein Ungluͤck nicht; al- les aͤndert ſich, nur mein Elend nicht! O Herr, das iſt ſchrecklich!
Ich. Ja wohl, ja wohl! Sie erzaͤhlten mir damals die Geſchichte Ihres Ungluͤcks, wir wur- den geſtoͤrt, ich waͤre ſehr begierig, ſie jetzt ganz zu hoͤren.
Die Alte. Von Herzen gerne! Ach! die Geſchichte meines Lebens iſt lehrreich fuͤr jeden, ich wollte, ich koͤnnte ſie von der Kanzel herab erzaͤhlen, ſie wuͤrde mehr wirken und nuͤtzen als manche Predigt. Wie weit habe ich ſie Ihnen denn erzaͤhlt?
Ehe ich antworten konnte, trat mein Kutſcher zu mir, und bat mich heimlich, daß ich mich nicht mehr mit der Naͤrrin abgeben moͤchte. Es koͤnnte, meinte er, nicht immer ſo wie vorhin gluͤcken, man haͤtte Beyſpiele, daß ſolche Leute recht ſanft und gut ſpraͤchen, aber mit einmal raſend wuͤrden, und jedem nach dem Leben trach- teten. Ich dankte fuͤr ſeinen wohlmeinenden Rath, und beruhigte ihn dadurch, daß ich mich in Acht zu nehmen verſprach. Ganz Unrecht hatte er nicht, das ſahe ich ſelbſt ein, aber meine Neu- gierde war maͤchtiger als die Gefahr, welche mir drohen konnte. Ich uͤberlegte nun, wie ich das
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Ich. (mich faſſend) Ja, ja! ſo lange
wird's ſicher ſeyn.
Die Alte. Gott, wie die Zeit verſchwindet!
Alles verſchwindet, nur mein Ungluͤck nicht; al-
les aͤndert ſich, nur mein Elend nicht! O Herr,
das iſt ſchrecklich!
Ich. Ja wohl, ja wohl! Sie erzaͤhlten mir
damals die Geſchichte Ihres Ungluͤcks, wir wur-
den geſtoͤrt, ich waͤre ſehr begierig, ſie jetzt ganz
zu hoͤren.
Die Alte. Von Herzen gerne! Ach! die
Geſchichte meines Lebens iſt lehrreich fuͤr jeden,
ich wollte, ich koͤnnte ſie von der Kanzel herab
erzaͤhlen, ſie wuͤrde mehr wirken und nuͤtzen als
manche Predigt. Wie weit habe ich ſie Ihnen
denn erzaͤhlt?
Ehe ich antworten konnte, trat mein Kutſcher
zu mir, und bat mich heimlich, daß ich mich
nicht mehr mit der Naͤrrin abgeben moͤchte. Es
koͤnnte, meinte er, nicht immer ſo wie vorhin
gluͤcken, man haͤtte Beyſpiele, daß ſolche Leute
recht ſanft und gut ſpraͤchen, aber mit einmal
raſend wuͤrden, und jedem nach dem Leben trach-
teten. Ich dankte fuͤr ſeinen wohlmeinenden Rath,
und beruhigte ihn dadurch, daß ich mich in Acht
zu nehmen verſprach. Ganz Unrecht hatte er
nicht, das ſahe ich ſelbſt ein, aber meine Neu-
gierde war maͤchtiger als die Gefahr, welche mir
drohen konnte. Ich uͤberlegte nun, wie ich das
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/202>, abgerufen am 19.02.2025.
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