den Sängern umher zu spähen, ich horchte von neuem, und hörte nun deutlich, daß der Gesang sich immer nähere. Es waren zwei weibliche Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei- nem sehr wohlklingenden Alte. Sie sangen aus- drucksvoll und mit einem Gefühle von Andacht, welches sich nicht beschreiben läßt; da ich oft den Namen der Mutter Gottes in diesem Liede nen- nen hörte; so schloß ich, daß es fromme Pilgrin- nen wären, welche nach irgend einer Kirche wall- fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich mäch- tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden Sängerinnen gerade auf mich zu kommen sah, sie sangen noch immer, ich wollte sie nicht stören, und trat abseits. Der Nebel umfloß sie nicht mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten sie hell. Voran gieng im langsamen, feierlichen Gange ein junges, hübsches Mädchen. Ihr gro- ses, schwarzes Auge starrte gen Himmel, ihre Hände waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem Gesichte glühte feurige Andacht, die mir an Schwärmerei zu grenzen schien, weil sich oft die sanften Züge ihres so schönen Gesichtes unregel- mäßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Mütter- chen, das vom Alter tief gebückt war, es strickte fleißig an einem Strumpfe, und schien ohne be- sondere Theilnahme mit zu singen. Das Mädchen stand jetzt mitten unter den Grabhügeln, sein Gefühl erhob sich, seine Andacht verdoppelte sich, sie schwieg gedrängt von innerer Empfindung
den Saͤngern umher zu ſpaͤhen, ich horchte von neuem, und hoͤrte nun deutlich, daß der Geſang ſich immer naͤhere. Es waren zwei weibliche Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei- nem ſehr wohlklingenden Alte. Sie ſangen aus- drucksvoll und mit einem Gefuͤhle von Andacht, welches ſich nicht beſchreiben laͤßt; da ich oft den Namen der Mutter Gottes in dieſem Liede nen- nen hoͤrte; ſo ſchloß ich, daß es fromme Pilgrin- nen waͤren, welche nach irgend einer Kirche wall- fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich maͤch- tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden Saͤngerinnen gerade auf mich zu kommen ſah, ſie ſangen noch immer, ich wollte ſie nicht ſtoͤren, und trat abſeits. Der Nebel umfloß ſie nicht mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten ſie hell. Voran gieng im langſamen, feierlichen Gange ein junges, huͤbſches Maͤdchen. Ihr gro- ſes, ſchwarzes Auge ſtarrte gen Himmel, ihre Haͤnde waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem Geſichte gluͤhte feurige Andacht, die mir an Schwaͤrmerei zu grenzen ſchien, weil ſich oft die ſanften Zuͤge ihres ſo ſchoͤnen Geſichtes unregel- maͤßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Muͤtter- chen, das vom Alter tief gebuͤckt war, es ſtrickte fleißig an einem Strumpfe, und ſchien ohne be- ſondere Theilnahme mit zu ſingen. Das Maͤdchen ſtand jetzt mitten unter den Grabhuͤgeln, ſein Gefuͤhl erhob ſich, ſeine Andacht verdoppelte ſich, ſie ſchwieg gedraͤngt von innerer Empfindung
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[7/0021]
den Saͤngern umher zu ſpaͤhen, ich horchte von
neuem, und hoͤrte nun deutlich, daß der Geſang
ſich immer naͤhere. Es waren zwei weibliche
Stimmen, ein reiner Discant, begleitet von ei-
nem ſehr wohlklingenden Alte. Sie ſangen aus-
drucksvoll und mit einem Gefuͤhle von Andacht,
welches ſich nicht beſchreiben laͤßt; da ich oft den
Namen der Mutter Gottes in dieſem Liede nen-
nen hoͤrte; ſo ſchloß ich, daß es fromme Pilgrin-
nen waͤren, welche nach irgend einer Kirche wall-
fahrteten. Der angenehme Ton lockte mich maͤch-
tig, ich wollte eben folgen, als ich die beiden
Saͤngerinnen gerade auf mich zu kommen ſah, ſie
ſangen noch immer, ich wollte ſie nicht ſtoͤren,
und trat abſeits. Der Nebel umfloß ſie nicht
mehr, die Strahlen der Sonne beleuchteten ſie
hell. Voran gieng im langſamen, feierlichen
Gange ein junges, huͤbſches Maͤdchen. Ihr gro-
ſes, ſchwarzes Auge ſtarrte gen Himmel, ihre
Haͤnde waren zu ihm empor gefaltet, in ihrem
Geſichte gluͤhte feurige Andacht, die mir an
Schwaͤrmerei zu grenzen ſchien, weil ſich oft die
ſanften Zuͤge ihres ſo ſchoͤnen Geſichtes unregel-
maͤßig verzogen. Ihr folgte ein kleines Muͤtter-
chen, das vom Alter tief gebuͤckt war, es ſtrickte
fleißig an einem Strumpfe, und ſchien ohne be-
ſondere Theilnahme mit zu ſingen. Das Maͤdchen
ſtand jetzt mitten unter den Grabhuͤgeln, ſein
Gefuͤhl erhob ſich, ſeine Andacht verdoppelte ſich,
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/21>, abgerufen am 27.07.2024.
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