stille, ihre Lippen beteten, endlich begann sie den Gesang von neuem. Da sie ihn dreimal wieder- holte, so gewann ich Zeit, das ganze Lied in mei- ne Schreibtafel zu schreiben. Es sind seit dieser Zeit viele Jahre verflossen; aber wenn ich mich dieses Lieds erinnere, so tönt es noch immer me- lodisch in meinem Ohre. Man denke sich ein schönes Mädchen, das im größten Gefühle der Andacht, mit festem Glauben an sichere Erhö- rung, auf der höchsten Zinne eines Berges steht, seine Hände zum Himmel empor hebt, und mit einem Ausdrucke, der sich nicht beschreiben läßt, schön und melodisch singt, dann nur kann man die Empfindungen messen, die es in mir erregte. Das Lied hat gar keine poetischen Schönheiten, ist voll Fehler, aber es ist mir heilig geworden, ich mag, ich wills nicht ändern, ich schreibe es wörtlich ab, ich füge die harmonische Melodie bei, und erwarte den Eindruck, welchen es, ge- sungen von einem schönen Munde, auf meine Le- ser machen wird:
Sei gegrüßt viel tausendmal! Sei gegrüßt! o Jungfrau rein! Du würkst Wunder ohne Zahl, Du erhörest groß und klein! Darum rufe ich zu dir: Mutter Gottes! Ach, hilf mir!
ſtille, ihre Lippen beteten, endlich begann ſie den Geſang von neuem. Da ſie ihn dreimal wieder- holte, ſo gewann ich Zeit, das ganze Lied in mei- ne Schreibtafel zu ſchreiben. Es ſind ſeit dieſer Zeit viele Jahre verfloſſen; aber wenn ich mich dieſes Lieds erinnere, ſo toͤnt es noch immer me- lodiſch in meinem Ohre. Man denke ſich ein ſchoͤnes Maͤdchen, das im groͤßten Gefuͤhle der Andacht, mit feſtem Glauben an ſichere Erhoͤ- rung, auf der hoͤchſten Zinne eines Berges ſteht, ſeine Haͤnde zum Himmel empor hebt, und mit einem Ausdrucke, der ſich nicht beſchreiben laͤßt, ſchoͤn und melodiſch ſingt, dann nur kann man die Empfindungen meſſen, die es in mir erregte. Das Lied hat gar keine poetiſchen Schoͤnheiten, iſt voll Fehler, aber es iſt mir heilig geworden, ich mag, ich wills nicht aͤndern, ich ſchreibe es woͤrtlich ab, ich fuͤge die harmoniſche Melodie bei, und erwarte den Eindruck, welchen es, ge- ſungen von einem ſchoͤnen Munde, auf meine Le- ſer machen wird:
Sei gegruͤßt viel tauſendmal! Sei gegruͤßt! o Jungfrau rein! Du wuͤrkſt Wunder ohne Zahl, Du erhoͤreſt groß und klein! Darum rufe ich zu dir: Mutter Gottes! Ach, hilf mir!
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ſtille, ihre Lippen beteten, endlich begann ſie den
Geſang von neuem. Da ſie ihn dreimal wieder-
holte, ſo gewann ich Zeit, das ganze Lied in mei-
ne Schreibtafel zu ſchreiben. Es ſind ſeit dieſer
Zeit viele Jahre verfloſſen; aber wenn ich mich
dieſes Lieds erinnere, ſo toͤnt es noch immer me-
lodiſch in meinem Ohre. Man denke ſich ein
ſchoͤnes Maͤdchen, das im groͤßten Gefuͤhle der
Andacht, mit feſtem Glauben an ſichere Erhoͤ-
rung, auf der hoͤchſten Zinne eines Berges ſteht,
ſeine Haͤnde zum Himmel empor hebt, und mit
einem Ausdrucke, der ſich nicht beſchreiben laͤßt,
ſchoͤn und melodiſch ſingt, dann nur kann man
die Empfindungen meſſen, die es in mir erregte.
Das Lied hat gar keine poetiſchen Schoͤnheiten,
iſt voll Fehler, aber es iſt mir heilig geworden,
ich mag, ich wills nicht aͤndern, ich ſchreibe es
woͤrtlich ab, ich fuͤge die harmoniſche Melodie
bei, und erwarte den Eindruck, welchen es, ge-
ſungen von einem ſchoͤnen Munde, auf meine Le-
ſer machen wird:
Sei gegruͤßt viel tauſendmal!
Sei gegruͤßt! o Jungfrau rein!
Du wuͤrkſt Wunder ohne Zahl,
Du erhoͤreſt groß und klein!
Darum rufe ich zu dir:
Mutter Gottes! Ach, hilf mir!
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/22>, abgerufen am 27.07.2024.
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