aber sie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge- messenen Schritten immer auf und nieder, lächelt links und rechts, und bleibt oft stundenlang vor einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen stehen. Ihr Auge wird dann äußerst beredt, es scheint mit der Statue zu sprechen. Man kann, wie ich später selbst beobachtete, deutlich sehen, wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft scheint sie mit sehnsuchtsvollem Blicke einer Ant- wort entgegen zu harren, und wenn diese ihrer Phantasie gemäß endlich erfolgt, so dankt ihr Au- ge mit einem Ausdrucke, der sich um so weniger beschreiben läßt, weil die übrigen Theile des Ge- sichts gar keinen Antheil daran zu nehmen schei- nen, und bei dem Gespräche ihrer Augen ganz gleichgültig bleiben.
Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab- schied von Mutter und Tochter; daß ich gab, was ich vermochte, und dann erst schied, brauche ich wohl nicht weiter zu erwähnen; ich konnte, ich wollte der Unglücklichen nicht nach der Stadt folgen, meine Seele war trüb und düster, mein Herz traurig, ich suchte mich im Anschauen der schönen Natur zu zerstreuen; aber es gelang nicht. Der Nebel war verschwunden, heiter stand die Sonne am Himmel, schön blüthen die Bäume, melodisch sangen die Vögel, aber mein Herz blieb traurig, es haderte mit dem Unglücke, das in so mancherlei Gestalten hinter dem Menschen einher wandert, und ihn oft schrecklich mißhandelt. -- --
aber ſie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge- meſſenen Schritten immer auf und nieder, laͤchelt links und rechts, und bleibt oft ſtundenlang vor einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen ſtehen. Ihr Auge wird dann aͤußerſt beredt, es ſcheint mit der Statue zu ſprechen. Man kann, wie ich ſpaͤter ſelbſt beobachtete, deutlich ſehen, wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft ſcheint ſie mit ſehnſuchtsvollem Blicke einer Ant- wort entgegen zu harren, und wenn dieſe ihrer Phantaſie gemaͤß endlich erfolgt, ſo dankt ihr Au- ge mit einem Ausdrucke, der ſich um ſo weniger beſchreiben laͤßt, weil die uͤbrigen Theile des Ge- ſichts gar keinen Antheil daran zu nehmen ſchei- nen, und bei dem Geſpraͤche ihrer Augen ganz gleichguͤltig bleiben.
Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab- ſchied von Mutter und Tochter; daß ich gab, was ich vermochte, und dann erſt ſchied, brauche ich wohl nicht weiter zu erwaͤhnen; ich konnte, ich wollte der Ungluͤcklichen nicht nach der Stadt folgen, meine Seele war truͤb und duͤſter, mein Herz traurig, ich ſuchte mich im Anſchauen der ſchoͤnen Natur zu zerſtreuen; aber es gelang nicht. Der Nebel war verſchwunden, heiter ſtand die Sonne am Himmel, ſchoͤn bluͤthen die Baͤume, melodiſch ſangen die Voͤgel, aber mein Herz blieb traurig, es haderte mit dem Ungluͤcke, das in ſo mancherlei Geſtalten hinter dem Menſchen einher wandert, und ihn oft ſchrecklich mißhandelt. — —
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aber ſie betritt nie einen Stuhl, geht mit abge-
meſſenen Schritten immer auf und nieder, laͤchelt
links und rechts, und bleibt oft ſtundenlang vor
einem Altare oder vor der Statue eines Heiligen
ſtehen. Ihr Auge wird dann aͤußerſt beredt, es
ſcheint mit der Statue zu ſprechen. Man kann,
wie ich ſpaͤter ſelbſt beobachtete, deutlich ſehen,
wenn ihr Herz Freude oder Leid empfindet, oft
ſcheint ſie mit ſehnſuchtsvollem Blicke einer Ant-
wort entgegen zu harren, und wenn dieſe ihrer
Phantaſie gemaͤß endlich erfolgt, ſo dankt ihr Au-
ge mit einem Ausdrucke, der ſich um ſo weniger
beſchreiben laͤßt, weil die uͤbrigen Theile des Ge-
ſichts gar keinen Antheil daran zu nehmen ſchei-
nen, und bei dem Geſpraͤche ihrer Augen ganz
gleichguͤltig bleiben.
Ehe wir das Thor erreichten, nahm ich Ab-
ſchied von Mutter und Tochter; daß ich gab,
was ich vermochte, und dann erſt ſchied, brauche
ich wohl nicht weiter zu erwaͤhnen; ich konnte,
ich wollte der Ungluͤcklichen nicht nach der Stadt
folgen, meine Seele war truͤb und duͤſter, mein
Herz traurig, ich ſuchte mich im Anſchauen der
ſchoͤnen Natur zu zerſtreuen; aber es gelang nicht.
Der Nebel war verſchwunden, heiter ſtand die
Sonne am Himmel, ſchoͤn bluͤthen die Baͤume,
melodiſch ſangen die Voͤgel, aber mein Herz blieb
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mancherlei Geſtalten hinter dem Menſchen einher
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/40>, abgerufen am 27.07.2024.
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