Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie ich wieder heimkehrte, erblickte ich das kleine
Häuschen, worinne Kätchen wohnte, es hieng
gleich einem Schwalbenneste am Thurme, zwei
kleine Gemächer füllten es ganz, und die mit
Papier verklebten Fensterscheiben verkündigten laut
die Armuth seiner Bewohner! Und doch war
dies elende Häuschen Schuld an Kätchens Unglü-
cke! War Ursache, daß das Meisterstück der
Schöpfung zerrüttet umher wandelt! O Men-
schen, seid nicht allzustolz auf euren Verstand!
Er ist ein armseliges Ding, eine zerbrechliche
Waare in der Hand eines Kindes, das sie sorg-
los auf den Boden fallen läßt, und auf immer
zertrümmert!

Nach zehn langen Jahren führte mich mein
Schicksal wieder in Ellbogens Mauern! Mein er-
ster Blick war auf Kätchens Häuschen gerichtet,
die Anzahl der papiernen Scheiben hatte sich in
ihren Fenstern ansehnlich vermehrt, und weissagte
größere Armuth. Ich besuchte sie am andern
Morgen, die alte Mutter lebte noch immer, sie
empfing mich freundlich, aber Kätchen sahe ich
nicht. Eine Empfindung, die Schmerz und Freu-
de zugleich erregt, oder wenigstens die Gränzlinie
zwischen beiden bestimmt, durchzitterte mein Herz,
ich wünschte sie wieder gesund zu sehen, aber ich
gönnte auch eben so willig ihrem leidenden Herzen
die sanfte, einzige Ruhe, wenn sich's unter der
Zeit nicht mit ihr gebessert hätte. Lebt Kätchen
nicht mehr? fragte ich forschend. Das traurige

Wie ich wieder heimkehrte, erblickte ich das kleine
Haͤuschen, worinne Kaͤtchen wohnte, es hieng
gleich einem Schwalbenneſte am Thurme, zwei
kleine Gemaͤcher fuͤllten es ganz, und die mit
Papier verklebten Fenſterſcheiben verkuͤndigten laut
die Armuth ſeiner Bewohner! Und doch war
dies elende Haͤuschen Schuld an Kaͤtchens Ungluͤ-
cke! War Urſache, daß das Meiſterſtuͤck der
Schoͤpfung zerruͤttet umher wandelt! O Men-
ſchen, ſeid nicht allzuſtolz auf euren Verſtand!
Er iſt ein armſeliges Ding, eine zerbrechliche
Waare in der Hand eines Kindes, das ſie ſorg-
los auf den Boden fallen laͤßt, und auf immer
zertruͤmmert!

Nach zehn langen Jahren fuͤhrte mich mein
Schickſal wieder in Ellbogens Mauern! Mein er-
ſter Blick war auf Kaͤtchens Haͤuschen gerichtet,
die Anzahl der papiernen Scheiben hatte ſich in
ihren Fenſtern anſehnlich vermehrt, und weiſſagte
groͤßere Armuth. Ich beſuchte ſie am andern
Morgen, die alte Mutter lebte noch immer, ſie
empfing mich freundlich, aber Kaͤtchen ſahe ich
nicht. Eine Empfindung, die Schmerz und Freu-
de zugleich erregt, oder wenigſtens die Graͤnzlinie
zwiſchen beiden beſtimmt, durchzitterte mein Herz,
ich wuͤnſchte ſie wieder geſund zu ſehen, aber ich
goͤnnte auch eben ſo willig ihrem leidenden Herzen
die ſanfte, einzige Ruhe, wenn ſich's unter der
Zeit nicht mit ihr gebeſſert haͤtte. Lebt Kaͤtchen
nicht mehr? fragte ich forſchend. Das traurige

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0041" n="27"/>
Wie ich wieder heimkehrte,                     erblickte ich das kleine<lb/>
Ha&#x0364;uschen, worinne Ka&#x0364;tchen wohnte, es                     hieng<lb/>
gleich einem Schwalbenne&#x017F;te am Thurme, zwei<lb/>
kleine Gema&#x0364;cher                     fu&#x0364;llten es ganz, und die mit<lb/>
Papier verklebten Fen&#x017F;ter&#x017F;cheiben                     verku&#x0364;ndigten laut<lb/>
die Armuth &#x017F;einer Bewohner! Und doch war<lb/>
dies elende                     Ha&#x0364;uschen Schuld an Ka&#x0364;tchens Unglu&#x0364;-<lb/>
cke! War Ur&#x017F;ache, daß das                     Mei&#x017F;ter&#x017F;tu&#x0364;ck der<lb/>
Scho&#x0364;pfung zerru&#x0364;ttet umher wandelt! O Men-<lb/>
&#x017F;chen,                     &#x017F;eid nicht allzu&#x017F;tolz auf euren Ver&#x017F;tand!<lb/>
Er i&#x017F;t ein arm&#x017F;eliges Ding, eine                     zerbrechliche<lb/>
Waare in der Hand eines Kindes, das &#x017F;ie &#x017F;org-<lb/>
los auf den                     Boden fallen la&#x0364;ßt, und auf immer<lb/>
zertru&#x0364;mmert!</p><lb/>
        <p>Nach zehn langen Jahren fu&#x0364;hrte mich mein<lb/>
Schick&#x017F;al wieder in Ellbogens                     Mauern! Mein er-<lb/>
&#x017F;ter Blick war auf Ka&#x0364;tchens Ha&#x0364;uschen gerichtet,<lb/>
die                     Anzahl der papiernen Scheiben hatte &#x017F;ich in<lb/>
ihren Fen&#x017F;tern an&#x017F;ehnlich                     vermehrt, und wei&#x017F;&#x017F;agte<lb/>
gro&#x0364;ßere Armuth. Ich be&#x017F;uchte &#x017F;ie am                     andern<lb/>
Morgen, die alte Mutter lebte noch immer, &#x017F;ie<lb/>
empfing mich                     freundlich, aber Ka&#x0364;tchen &#x017F;ahe ich<lb/>
nicht. Eine Empfindung, die Schmerz und                     Freu-<lb/>
de zugleich erregt, oder wenig&#x017F;tens die Gra&#x0364;nzlinie<lb/>
zwi&#x017F;chen                     beiden be&#x017F;timmt, durchzitterte mein Herz,<lb/>
ich wu&#x0364;n&#x017F;chte &#x017F;ie wieder ge&#x017F;und zu                     &#x017F;ehen, aber ich<lb/>
go&#x0364;nnte auch eben &#x017F;o willig ihrem leidenden Herzen<lb/>
die                     &#x017F;anfte, einzige Ruhe, wenn &#x017F;ich's unter der<lb/>
Zeit nicht mit ihr gebe&#x017F;&#x017F;ert                     ha&#x0364;tte. Lebt Ka&#x0364;tchen<lb/>
nicht mehr? fragte ich for&#x017F;chend. Das traurige<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0041] Wie ich wieder heimkehrte, erblickte ich das kleine Haͤuschen, worinne Kaͤtchen wohnte, es hieng gleich einem Schwalbenneſte am Thurme, zwei kleine Gemaͤcher fuͤllten es ganz, und die mit Papier verklebten Fenſterſcheiben verkuͤndigten laut die Armuth ſeiner Bewohner! Und doch war dies elende Haͤuschen Schuld an Kaͤtchens Ungluͤ- cke! War Urſache, daß das Meiſterſtuͤck der Schoͤpfung zerruͤttet umher wandelt! O Men- ſchen, ſeid nicht allzuſtolz auf euren Verſtand! Er iſt ein armſeliges Ding, eine zerbrechliche Waare in der Hand eines Kindes, das ſie ſorg- los auf den Boden fallen laͤßt, und auf immer zertruͤmmert! Nach zehn langen Jahren fuͤhrte mich mein Schickſal wieder in Ellbogens Mauern! Mein er- ſter Blick war auf Kaͤtchens Haͤuschen gerichtet, die Anzahl der papiernen Scheiben hatte ſich in ihren Fenſtern anſehnlich vermehrt, und weiſſagte groͤßere Armuth. Ich beſuchte ſie am andern Morgen, die alte Mutter lebte noch immer, ſie empfing mich freundlich, aber Kaͤtchen ſahe ich nicht. Eine Empfindung, die Schmerz und Freu- de zugleich erregt, oder wenigſtens die Graͤnzlinie zwiſchen beiden beſtimmt, durchzitterte mein Herz, ich wuͤnſchte ſie wieder geſund zu ſehen, aber ich goͤnnte auch eben ſo willig ihrem leidenden Herzen die ſanfte, einzige Ruhe, wenn ſich's unter der Zeit nicht mit ihr gebeſſert haͤtte. Lebt Kaͤtchen nicht mehr? fragte ich forſchend. Das traurige

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/41
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/41>, abgerufen am 23.11.2024.