Alten und Kätchen sprechen, noch manches sie fragen; aber ich war's nicht vermögend, inniges Mitleid mit ihrem jammervollen Zustande, und die gewisse Ueberzeugung, daß ich durch Fragen ihn nicht lindern könnte, trieb mich in's Freie. Ich sah und sprach sie nach der Hand oft, aber ich sah und sprach sie nie, ohne mich immer deut- licher zu überzeugen, daß der Verlust des Ver- standes jeden Vorzug des menschlichen Körpers, den er vor dem Thiere hat, nach und nach zer- stört, und ihn ganz bis zu diesem herab- würdigt.
Kätchen träumt oft und viel, erzählt jeden ihrer Träume am Morgen wieder, aber alle diese Träume haben keine Spur des Wahnsinns, ver- rathen oft viele und feine Beurtheilungskraft. Dieser Umstand war mir von jeher auffallend und merkwürdig. Wenn ihr Körper ruht, ihre Sinne keines Eindrucks fähig sind, scheint ihr Geist fä- hig zu seyn, richtig denken und schließen zu kön- nen; aber sobald ihr Körper erwacht, sind ihre Ideen wieder ganz zerrüttet, voll des stärksten Wahnsinns! -- -- Sie singt ihr Lied noch im- mer, aber jetzt erregt's in ihrem Munde nicht mehr Bewunderung, nur Mitleid und Er- barmen.
Empfindsame Seelen, wenn ihr einst in Ell- bogens romantischen Gegenden lustwandelt, so ge- denkt des armen und nothleidenden Kätchens!
Alten und Kaͤtchen ſprechen, noch manches ſie fragen; aber ich war's nicht vermoͤgend, inniges Mitleid mit ihrem jammervollen Zuſtande, und die gewiſſe Ueberzeugung, daß ich durch Fragen ihn nicht lindern koͤnnte, trieb mich in's Freie. Ich ſah und ſprach ſie nach der Hand oft, aber ich ſah und ſprach ſie nie, ohne mich immer deut- licher zu uͤberzeugen, daß der Verluſt des Ver- ſtandes jeden Vorzug des menſchlichen Koͤrpers, den er vor dem Thiere hat, nach und nach zer- ſtoͤrt, und ihn ganz bis zu dieſem herab- wuͤrdigt.
Kaͤtchen traͤumt oft und viel, erzaͤhlt jeden ihrer Traͤume am Morgen wieder, aber alle dieſe Traͤume haben keine Spur des Wahnſinns, ver- rathen oft viele und feine Beurtheilungskraft. Dieſer Umſtand war mir von jeher auffallend und merkwuͤrdig. Wenn ihr Koͤrper ruht, ihre Sinne keines Eindrucks faͤhig ſind, ſcheint ihr Geiſt faͤ- hig zu ſeyn, richtig denken und ſchließen zu koͤn- nen; aber ſobald ihr Koͤrper erwacht, ſind ihre Ideen wieder ganz zerruͤttet, voll des ſtaͤrkſten Wahnſinns! — — Sie ſingt ihr Lied noch im- mer, aber jetzt erregt's in ihrem Munde nicht mehr Bewunderung, nur Mitleid und Er- barmen.
Empfindſame Seelen, wenn ihr einſt in Ell- bogens romantiſchen Gegenden luſtwandelt, ſo ge- denkt des armen und nothleidenden Kaͤtchens!
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0044"n="30"/>
Alten und Kaͤtchen ſprechen, noch manches ſie<lb/>
fragen; aber ich war's nicht vermoͤgend, inniges<lb/>
Mitleid mit ihrem jammervollen Zuſtande, und<lb/>
die gewiſſe Ueberzeugung, daß ich durch Fragen<lb/>
ihn nicht lindern koͤnnte, trieb mich in's Freie.<lb/>
Ich ſah und ſprach ſie nach der Hand oft, aber<lb/>
ich ſah und ſprach ſie nie, ohne mich immer deut-<lb/>
licher zu uͤberzeugen, daß der Verluſt des Ver-<lb/>ſtandes jeden Vorzug des menſchlichen Koͤrpers,<lb/>
den er vor dem Thiere hat, nach und nach zer-<lb/>ſtoͤrt, und ihn ganz bis zu dieſem herab-<lb/>
wuͤrdigt.</p><lb/><p>Kaͤtchen traͤumt oft und viel, erzaͤhlt jeden<lb/>
ihrer Traͤume am Morgen wieder, aber alle dieſe<lb/>
Traͤume haben keine Spur des Wahnſinns, ver-<lb/>
rathen oft viele und feine Beurtheilungskraft.<lb/>
Dieſer Umſtand war mir von jeher auffallend und<lb/>
merkwuͤrdig. Wenn ihr Koͤrper ruht, ihre Sinne<lb/>
keines Eindrucks faͤhig ſind, ſcheint ihr Geiſt faͤ-<lb/>
hig zu ſeyn, richtig denken und ſchließen zu koͤn-<lb/>
nen; aber ſobald ihr Koͤrper erwacht, ſind ihre<lb/>
Ideen wieder ganz zerruͤttet, voll des ſtaͤrkſten<lb/>
Wahnſinns! —— Sie ſingt ihr Lied noch im-<lb/>
mer, aber jetzt erregt's in ihrem Munde nicht<lb/>
mehr Bewunderung, nur Mitleid und Er-<lb/>
barmen.</p><lb/><p>Empfindſame Seelen, wenn ihr einſt in Ell-<lb/>
bogens romantiſchen Gegenden luſtwandelt, ſo ge-<lb/>
denkt des armen und nothleidenden Kaͤtchens!<lb/></p></div></body></text></TEI>
[30/0044]
Alten und Kaͤtchen ſprechen, noch manches ſie
fragen; aber ich war's nicht vermoͤgend, inniges
Mitleid mit ihrem jammervollen Zuſtande, und
die gewiſſe Ueberzeugung, daß ich durch Fragen
ihn nicht lindern koͤnnte, trieb mich in's Freie.
Ich ſah und ſprach ſie nach der Hand oft, aber
ich ſah und ſprach ſie nie, ohne mich immer deut-
licher zu uͤberzeugen, daß der Verluſt des Ver-
ſtandes jeden Vorzug des menſchlichen Koͤrpers,
den er vor dem Thiere hat, nach und nach zer-
ſtoͤrt, und ihn ganz bis zu dieſem herab-
wuͤrdigt.
Kaͤtchen traͤumt oft und viel, erzaͤhlt jeden
ihrer Traͤume am Morgen wieder, aber alle dieſe
Traͤume haben keine Spur des Wahnſinns, ver-
rathen oft viele und feine Beurtheilungskraft.
Dieſer Umſtand war mir von jeher auffallend und
merkwuͤrdig. Wenn ihr Koͤrper ruht, ihre Sinne
keines Eindrucks faͤhig ſind, ſcheint ihr Geiſt faͤ-
hig zu ſeyn, richtig denken und ſchließen zu koͤn-
nen; aber ſobald ihr Koͤrper erwacht, ſind ihre
Ideen wieder ganz zerruͤttet, voll des ſtaͤrkſten
Wahnſinns! — — Sie ſingt ihr Lied noch im-
mer, aber jetzt erregt's in ihrem Munde nicht
mehr Bewunderung, nur Mitleid und Er-
barmen.
Empfindſame Seelen, wenn ihr einſt in Ell-
bogens romantiſchen Gegenden luſtwandelt, ſo ge-
denkt des armen und nothleidenden Kaͤtchens!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/44>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.