betrachtete, muß Sokrates studiert, so tief und forschend muß er geblickt haben, als er die Grün- de zum Beweise seiner Unsterblichkeit sammelte. Ein dünnes, schon vom Alter gebleichtes Haar beschattete sparsam seine Schläfe, und verrieth deutlich den Mangel an Säften, die ihm anhal- tendes Studium geraubt hatte. Seine breite, hochgewölbte Stirne, welche sich mächtig faltete, verrieth den Forscher und Denker, seine lange, spitzige Habichtsnase bestätigte diese Muthma- sung, der unmerkbar lächelnde Mund bewies in- nere Zufriedenheit und Seelenruhe. Das Ganze dieses merkwürdigen Gesichts heischte Ehrfurcht, und schien sie ganz zu verdienen. Ich wagte es nicht, ihn im Lesen zu stören, und wollte ruhig harren, bis er geendet habe, um dann Bekannt- schaft mit einem Manne zu machen, dessen Aeus- seres so viel versprach. Ein kleines Geräusch, das ich nach langem Harren absichtlich erregte, und wodurch ich seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen wollte, mißlang ganz, es stöhrte ihn nicht in seinem tiefen Nachdenken, mit welchem er noch immer den Inhalt des Blattes zu beherzigen schien. Ich harrte auf's neue, aber vergebens, endlich bewog mich mein kleines, dichterisches Verdienst, womit ich freilich nur in entfernter Ehrfurcht auf die Bekanntschaft eines Philoso- phen Anspruch machen konnte, zu der Kühnheit, mich ihm zu nähern. Der Schatten meines Haup- tes fiel auf sein Blatt, er blickte seitwärts, und
sah
betrachtete, muß Sokrates ſtudiert, ſo tief und forſchend muß er geblickt haben, als er die Gruͤn- de zum Beweiſe ſeiner Unſterblichkeit ſammelte. Ein duͤnnes, ſchon vom Alter gebleichtes Haar beſchattete ſparſam ſeine Schlaͤfe, und verrieth deutlich den Mangel an Saͤften, die ihm anhal- tendes Studium geraubt hatte. Seine breite, hochgewoͤlbte Stirne, welche ſich maͤchtig faltete, verrieth den Forſcher und Denker, ſeine lange, ſpitzige Habichtsnaſe beſtaͤtigte dieſe Muthma- ſung, der unmerkbar laͤchelnde Mund bewies in- nere Zufriedenheit und Seelenruhe. Das Ganze dieſes merkwuͤrdigen Geſichts heiſchte Ehrfurcht, und ſchien ſie ganz zu verdienen. Ich wagte es nicht, ihn im Leſen zu ſtoͤren, und wollte ruhig harren, bis er geendet habe, um dann Bekannt- ſchaft mit einem Manne zu machen, deſſen Aeuſ- ſeres ſo viel verſprach. Ein kleines Geraͤuſch, das ich nach langem Harren abſichtlich erregte, und wodurch ich ſeine Aufmerkſamkeit auf mich ziehen wollte, mißlang ganz, es ſtoͤhrte ihn nicht in ſeinem tiefen Nachdenken, mit welchem er noch immer den Inhalt des Blattes zu beherzigen ſchien. Ich harrte auf's neue, aber vergebens, endlich bewog mich mein kleines, dichteriſches Verdienſt, womit ich freilich nur in entfernter Ehrfurcht auf die Bekanntſchaft eines Philoſo- phen Anſpruch machen konnte, zu der Kuͤhnheit, mich ihm zu naͤhern. Der Schatten meines Haup- tes fiel auf ſein Blatt, er blickte ſeitwaͤrts, und
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betrachtete, muß Sokrates ſtudiert, ſo tief und
forſchend muß er geblickt haben, als er die Gruͤn-
de zum Beweiſe ſeiner Unſterblichkeit ſammelte.
Ein duͤnnes, ſchon vom Alter gebleichtes Haar
beſchattete ſparſam ſeine Schlaͤfe, und verrieth
deutlich den Mangel an Saͤften, die ihm anhal-
tendes Studium geraubt hatte. Seine breite,
hochgewoͤlbte Stirne, welche ſich maͤchtig faltete,
verrieth den Forſcher und Denker, ſeine lange,
ſpitzige Habichtsnaſe beſtaͤtigte dieſe Muthma-
ſung, der unmerkbar laͤchelnde Mund bewies in-
nere Zufriedenheit und Seelenruhe. Das Ganze
dieſes merkwuͤrdigen Geſichts heiſchte Ehrfurcht,
und ſchien ſie ganz zu verdienen. Ich wagte es
nicht, ihn im Leſen zu ſtoͤren, und wollte ruhig
harren, bis er geendet habe, um dann Bekannt-
ſchaft mit einem Manne zu machen, deſſen Aeuſ-
ſeres ſo viel verſprach. Ein kleines Geraͤuſch,
das ich nach langem Harren abſichtlich erregte,
und wodurch ich ſeine Aufmerkſamkeit auf mich
ziehen wollte, mißlang ganz, es ſtoͤhrte ihn nicht
in ſeinem tiefen Nachdenken, mit welchem er noch
immer den Inhalt des Blattes zu beherzigen
ſchien. Ich harrte auf's neue, aber vergebens,
endlich bewog mich mein kleines, dichteriſches
Verdienſt, womit ich freilich nur in entfernter
Ehrfurcht auf die Bekanntſchaft eines Philoſo-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/46>, abgerufen am 27.07.2024.
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