ein eben so altes, wahrscheinlich Visionen und Träumereien enthaltendes Buch. Er läßt das letztere keinem Sterblichen sehen, und gewaltsame Wegnahme würde ihn rasend machen. Liest er in der Kronik, so wähnt er ein ächter und wahrer Abkömmling Kaiser Karl des Vierten zu seyn, macht dann Anspruch auf den böhmischen Thron, und betheuert hoch, daß ihm dieser einst noch wer- den müsse. Hat er aber das unbekannte Buch ge- lesen, so spricht er von einer Oberwelt, in welcher er selbst einst war und die er, seinen verwirrten Ideen gemäß, oft aber recht romantisch, schildert. Er predigt dann Buße, und ermahnt die jungen Leute in warmen, kräftigen Ausdrücken zur Tu- gend. Oft mischen sich auch beide Ideen in sei- nem Gespräche wunderlich durcheinander, er geht von einer zur andern über, und wird denen, die nicht davon unterrichtet sind, unverständlich.
Ich. Kann ich nicht mit ihm sprechen? Dies nicht alles aus seinem Munde hören?
Pfarrer. Das wird schwer halten, denn es giebt oft Wochen und Monden, in welchen er äußerst verschlossen umherwandelt, und über neuen Ideen brütet; dann kann man ihm selten Rede abgewinnen, er weiß jeder Frage sehr geschickt auszuweichen, und vereitelt die Neugierde des Forschers. Am offenherzigsten spricht er gemeinig- lich mit dem Herrn des Schlosses, der ihm sehr
ein eben ſo altes, wahrſcheinlich Viſionen und Traͤumereien enthaltendes Buch. Er laͤßt das letztere keinem Sterblichen ſehen, und gewaltſame Wegnahme wuͤrde ihn raſend machen. Lieſt er in der Kronik, ſo waͤhnt er ein aͤchter und wahrer Abkoͤmmling Kaiſer Karl des Vierten zu ſeyn, macht dann Anſpruch auf den boͤhmiſchen Thron, und betheuert hoch, daß ihm dieſer einſt noch wer- den muͤſſe. Hat er aber das unbekannte Buch ge- leſen, ſo ſpricht er von einer Oberwelt, in welcher er ſelbſt einſt war und die er, ſeinen verwirrten Ideen gemaͤß, oft aber recht romantiſch, ſchildert. Er predigt dann Buße, und ermahnt die jungen Leute in warmen, kraͤftigen Ausdruͤcken zur Tu- gend. Oft miſchen ſich auch beide Ideen in ſei- nem Geſpraͤche wunderlich durcheinander, er geht von einer zur andern uͤber, und wird denen, die nicht davon unterrichtet ſind, unverſtaͤndlich.
Ich. Kann ich nicht mit ihm ſprechen? Dies nicht alles aus ſeinem Munde hoͤren?
Pfarrer. Das wird ſchwer halten, denn es giebt oft Wochen und Monden, in welchen er aͤußerſt verſchloſſen umherwandelt, und uͤber neuen Ideen bruͤtet; dann kann man ihm ſelten Rede abgewinnen, er weiß jeder Frage ſehr geſchickt auszuweichen, und vereitelt die Neugierde des Forſchers. Am offenherzigſten ſpricht er gemeinig- lich mit dem Herrn des Schloſſes, der ihm ſehr
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ein eben ſo altes, wahrſcheinlich Viſionen und
Traͤumereien enthaltendes Buch. Er laͤßt das
letztere keinem Sterblichen ſehen, und gewaltſame
Wegnahme wuͤrde ihn raſend machen. Lieſt er
in der Kronik, ſo waͤhnt er ein aͤchter und wahrer
Abkoͤmmling Kaiſer Karl des Vierten zu ſeyn,
macht dann Anſpruch auf den boͤhmiſchen Thron,
und betheuert hoch, daß ihm dieſer einſt noch wer-
den muͤſſe. Hat er aber das unbekannte Buch ge-
leſen, ſo ſpricht er von einer Oberwelt, in welcher
er ſelbſt einſt war und die er, ſeinen verwirrten
Ideen gemaͤß, oft aber recht romantiſch, ſchildert.
Er predigt dann Buße, und ermahnt die jungen
Leute in warmen, kraͤftigen Ausdruͤcken zur Tu-
gend. Oft miſchen ſich auch beide Ideen in ſei-
nem Geſpraͤche wunderlich durcheinander, er geht
von einer zur andern uͤber, und wird denen, die
nicht davon unterrichtet ſind, unverſtaͤndlich.
Ich. Kann ich nicht mit ihm ſprechen? Dies
nicht alles aus ſeinem Munde hoͤren?
Pfarrer. Das wird ſchwer halten, denn
es giebt oft Wochen und Monden, in welchen er
aͤußerſt verſchloſſen umherwandelt, und uͤber neuen
Ideen bruͤtet; dann kann man ihm ſelten Rede
abgewinnen, er weiß jeder Frage ſehr geſchickt
auszuweichen, und vereitelt die Neugierde des
Forſchers. Am offenherzigſten ſpricht er gemeinig-
lich mit dem Herrn des Schloſſes, der ihm ſehr
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/53>, abgerufen am 16.02.2025.
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