Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.laßne Waise zu sich. Alle Zeitgenossen erinnern laßne Waiſe zu ſich. Alle Zeitgenoſſen erinnern <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0069" n="55"/> laßne Waiſe zu ſich. Alle Zeitgenoſſen erinnern<lb/> ſich, daß Karl in der Schule vorzuͤglich gut lern-<lb/> te, und immer vom Schulmeiſter beſonders gelobt<lb/> wurde. Er wollte ſehr gerne ſtudieren, da aber<lb/> ſein Vetter die Koſten dazu nicht hergeben konn-<lb/> te, ſo mußte er wider ſeinen Willen ein Schnei-<lb/> der werden. Er war ſtets ſtill und fleißig, aber<lb/> er brachte es in ſeinem Handwerke nicht einmal<lb/> zur mittelmaͤßigen Vollkommenheit, und verrieth<lb/> in ſeiner Arbeit oft große Zerſtreuung. Endlich<lb/> gieng er einige Jahre auf die Wanderſchaft, kam<lb/> aber nicht viel geſchickter nach Hauſe; er wuͤrde<lb/> indeß doch daheim ſein Brod verdient haben,<lb/> wenn er nur fleißig haͤtte arbeiten wollen, aber<lb/> nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte<lb/> er ein Stuͤckchen trocknes Brod, ſo ſperrte er ſich<lb/> in ſein Stuͤbchen ein, und las Buͤcher, welche<lb/> ihm der Zufall in die Haͤnde fuͤhrte. Daß er<lb/> die meiſten unrecht verſtand, ſich darinne Ideen<lb/> zum Wahnſinne ſammlete, lehrte und bewieß die<lb/> Folge. Wahrſcheinlich wuͤrde er ein großer, ein<lb/> tiefdenkender Gelehrter geworden ſeyn, wenn ſeine<lb/> Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren<lb/> gehindert haͤtte. Selbſt ſein beinahe fuͤnf und<lb/> zwanzigjaͤhriger Wahnſinn hat die Spuren ſeines<lb/> offenen Kopfes, ſeines Genies noch nicht ganz<lb/> vertilgt. Er ſchreibt eine gute, lesbare Schrift,<lb/> er iſt ſehr gut in der Geſchichte bewandert und<lb/> ſpricht vom puniſchen wie vom huſſiten Kriege mit<lb/> gleicher Wahrheit. Er kann die Bibel beinah<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [55/0069]
laßne Waiſe zu ſich. Alle Zeitgenoſſen erinnern
ſich, daß Karl in der Schule vorzuͤglich gut lern-
te, und immer vom Schulmeiſter beſonders gelobt
wurde. Er wollte ſehr gerne ſtudieren, da aber
ſein Vetter die Koſten dazu nicht hergeben konn-
te, ſo mußte er wider ſeinen Willen ein Schnei-
der werden. Er war ſtets ſtill und fleißig, aber
er brachte es in ſeinem Handwerke nicht einmal
zur mittelmaͤßigen Vollkommenheit, und verrieth
in ſeiner Arbeit oft große Zerſtreuung. Endlich
gieng er einige Jahre auf die Wanderſchaft, kam
aber nicht viel geſchickter nach Hauſe; er wuͤrde
indeß doch daheim ſein Brod verdient haben,
wenn er nur fleißig haͤtte arbeiten wollen, aber
nur Hunger konnte ihn zur Arbeit zwingen: hatte
er ein Stuͤckchen trocknes Brod, ſo ſperrte er ſich
in ſein Stuͤbchen ein, und las Buͤcher, welche
ihm der Zufall in die Haͤnde fuͤhrte. Daß er
die meiſten unrecht verſtand, ſich darinne Ideen
zum Wahnſinne ſammlete, lehrte und bewieß die
Folge. Wahrſcheinlich wuͤrde er ein großer, ein
tiefdenkender Gelehrter geworden ſeyn, wenn ſeine
Armuth ihn in der Jugend nicht am Studieren
gehindert haͤtte. Selbſt ſein beinahe fuͤnf und
zwanzigjaͤhriger Wahnſinn hat die Spuren ſeines
offenen Kopfes, ſeines Genies noch nicht ganz
vertilgt. Er ſchreibt eine gute, lesbare Schrift,
er iſt ſehr gut in der Geſchichte bewandert und
ſpricht vom puniſchen wie vom huſſiten Kriege mit
gleicher Wahrheit. Er kann die Bibel beinah
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