Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

ließ sich durch die Mägde ankleiden, sie war nicht
vermögend allein zu gehen, die Mägde mußten
sie auch nach der Kirche führen, sie nahmen Platz
neben ihr, und gaben ihr oft stärkenden Geist zu
riechen, weil sie immer ohnmächtig zu werden
drohte. Die ganze versammlete Gemeinde sah ihr
Leiden, schloß auf Entdeckung und fühlte Mitleid.
Der Gottesdienst begann, alle sangen im trauri-
gen Tone das fröhliche Morgenlied; als nachher
der alte Vater, welcher schon zwei und vierzig
Jahre ihr Lehrer gewesen war, zum Altare wank-
te, oft die trüben Augen sich wischte, und doch
das Evangelium nur stotternd lesen konnte, da
weinten schon viele, und das folgende Lied ward
im noch traurigern Tone abgesungen. Endlich be-
stieg der ehrwürdige Greis die Kanzel, er ruhte
oft auf ihren Stufen, blickte nach Kraft in die
Höhe, und langte oben an, als schon tiefe Stille
der Gemeinde ihn erwartete. Er rang fürchterlich
seine Hände, und rief weinend aus: O meine
Tochter! O meine Tochter, wie beugst du mich!
Dies, fuhr er fort, war nicht der Text, welchen
ich zu meiner heutigen Predigt gewählt hatte,
aber jetzt aus innerm Gefühle wählen muß. O
meine Tochter! O meine Tochter! wie beugst du
mich! Zwei und vierzig Jahre stand ich aufrecht
an dieser heiligen Stätte, und ward gestärkt
durch die innere Ueberzeugung, daß ich handelte,
wie ich lehrte. O meine Tochter, wie beugst du
mich! Jetzt muß ich, vom schrecklichen Grame

ließ ſich durch die Maͤgde ankleiden, ſie war nicht
vermoͤgend allein zu gehen, die Maͤgde mußten
ſie auch nach der Kirche fuͤhren, ſie nahmen Platz
neben ihr, und gaben ihr oft ſtaͤrkenden Geiſt zu
riechen, weil ſie immer ohnmaͤchtig zu werden
drohte. Die ganze verſammlete Gemeinde ſah ihr
Leiden, ſchloß auf Entdeckung und fuͤhlte Mitleid.
Der Gottesdienſt begann, alle ſangen im trauri-
gen Tone das froͤhliche Morgenlied; als nachher
der alte Vater, welcher ſchon zwei und vierzig
Jahre ihr Lehrer geweſen war, zum Altare wank-
te, oft die truͤben Augen ſich wiſchte, und doch
das Evangelium nur ſtotternd leſen konnte, da
weinten ſchon viele, und das folgende Lied ward
im noch traurigern Tone abgeſungen. Endlich be-
ſtieg der ehrwuͤrdige Greis die Kanzel, er ruhte
oft auf ihren Stufen, blickte nach Kraft in die
Hoͤhe, und langte oben an, als ſchon tiefe Stille
der Gemeinde ihn erwartete. Er rang fuͤrchterlich
ſeine Haͤnde, und rief weinend aus: O meine
Tochter! O meine Tochter, wie beugſt du mich!
Dies, fuhr er fort, war nicht der Text, welchen
ich zu meiner heutigen Predigt gewaͤhlt hatte,
aber jetzt aus innerm Gefuͤhle waͤhlen muß. O
meine Tochter! O meine Tochter! wie beugſt du
mich! Zwei und vierzig Jahre ſtand ich aufrecht
an dieſer heiligen Staͤtte, und ward geſtaͤrkt
durch die innere Ueberzeugung, daß ich handelte,
wie ich lehrte. O meine Tochter, wie beugſt du
mich! Jetzt muß ich, vom ſchrecklichen Grame

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0087" n="73"/>
ließ                     &#x017F;ich durch die Ma&#x0364;gde ankleiden, &#x017F;ie war nicht<lb/>
vermo&#x0364;gend allein zu gehen,                     die Ma&#x0364;gde mußten<lb/>
&#x017F;ie auch nach der Kirche fu&#x0364;hren, &#x017F;ie nahmen                     Platz<lb/>
neben ihr, und gaben ihr oft &#x017F;ta&#x0364;rkenden Gei&#x017F;t zu<lb/>
riechen, weil                     &#x017F;ie immer ohnma&#x0364;chtig zu werden<lb/>
drohte. Die ganze ver&#x017F;ammlete Gemeinde &#x017F;ah                     ihr<lb/>
Leiden, &#x017F;chloß auf Entdeckung und fu&#x0364;hlte Mitleid.<lb/>
Der Gottesdien&#x017F;t                     begann, alle &#x017F;angen im trauri-<lb/>
gen Tone das fro&#x0364;hliche Morgenlied; als                     nachher<lb/>
der alte Vater, welcher &#x017F;chon zwei und vierzig<lb/>
Jahre ihr Lehrer                     gewe&#x017F;en war, zum Altare wank-<lb/>
te, oft die tru&#x0364;ben Augen &#x017F;ich wi&#x017F;chte, und                     doch<lb/>
das Evangelium nur &#x017F;totternd le&#x017F;en konnte, da<lb/>
weinten &#x017F;chon viele,                     und das folgende Lied ward<lb/>
im noch traurigern Tone abge&#x017F;ungen. Endlich                     be-<lb/>
&#x017F;tieg der ehrwu&#x0364;rdige Greis die Kanzel, er ruhte<lb/>
oft auf ihren                     Stufen, blickte nach Kraft in die<lb/>
Ho&#x0364;he, und langte oben an, als &#x017F;chon tiefe                     Stille<lb/>
der Gemeinde ihn erwartete. Er rang fu&#x0364;rchterlich<lb/>
&#x017F;eine Ha&#x0364;nde,                     und rief weinend aus: O meine<lb/>
Tochter! O meine Tochter, wie beug&#x017F;t du                     mich!<lb/>
Dies, fuhr er fort, war nicht der Text, welchen<lb/>
ich zu meiner                     heutigen Predigt gewa&#x0364;hlt hatte,<lb/>
aber jetzt aus innerm Gefu&#x0364;hle wa&#x0364;hlen muß.                     O<lb/>
meine Tochter! O meine Tochter! wie beug&#x017F;t du<lb/>
mich! Zwei und vierzig                     Jahre &#x017F;tand ich aufrecht<lb/>
an die&#x017F;er heiligen Sta&#x0364;tte, und ward                     ge&#x017F;ta&#x0364;rkt<lb/>
durch die innere Ueberzeugung, daß ich handelte,<lb/>
wie ich                     lehrte. O meine Tochter, wie beug&#x017F;t du<lb/>
mich! Jetzt muß ich, vom                     &#x017F;chrecklichen Grame<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0087] ließ ſich durch die Maͤgde ankleiden, ſie war nicht vermoͤgend allein zu gehen, die Maͤgde mußten ſie auch nach der Kirche fuͤhren, ſie nahmen Platz neben ihr, und gaben ihr oft ſtaͤrkenden Geiſt zu riechen, weil ſie immer ohnmaͤchtig zu werden drohte. Die ganze verſammlete Gemeinde ſah ihr Leiden, ſchloß auf Entdeckung und fuͤhlte Mitleid. Der Gottesdienſt begann, alle ſangen im trauri- gen Tone das froͤhliche Morgenlied; als nachher der alte Vater, welcher ſchon zwei und vierzig Jahre ihr Lehrer geweſen war, zum Altare wank- te, oft die truͤben Augen ſich wiſchte, und doch das Evangelium nur ſtotternd leſen konnte, da weinten ſchon viele, und das folgende Lied ward im noch traurigern Tone abgeſungen. Endlich be- ſtieg der ehrwuͤrdige Greis die Kanzel, er ruhte oft auf ihren Stufen, blickte nach Kraft in die Hoͤhe, und langte oben an, als ſchon tiefe Stille der Gemeinde ihn erwartete. Er rang fuͤrchterlich ſeine Haͤnde, und rief weinend aus: O meine Tochter! O meine Tochter, wie beugſt du mich! Dies, fuhr er fort, war nicht der Text, welchen ich zu meiner heutigen Predigt gewaͤhlt hatte, aber jetzt aus innerm Gefuͤhle waͤhlen muß. O meine Tochter! O meine Tochter! wie beugſt du mich! Zwei und vierzig Jahre ſtand ich aufrecht an dieſer heiligen Staͤtte, und ward geſtaͤrkt durch die innere Ueberzeugung, daß ich handelte, wie ich lehrte. O meine Tochter, wie beugſt du mich! Jetzt muß ich, vom ſchrecklichen Grame

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/87
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 1. Leipzig, 1796, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien01_1796/87>, abgerufen am 21.11.2024.