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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

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ter über die Grenze entflohen sei. Man fand ihn
oft in einem Winkel versteckt, wo er das traurige
Schicksal seiner unbekannten Mutter beweinte;
nur die Versicherung, daß ihre Gefangenschaft
sich bald endigen werde, konnte ihn trösten, aber
er versank in neue Trauer, als er durch andre er-
fuhr, daß diese Versicherung nur zu seinem Tro-
ste erdichtet worden sei. Diese deutlichen Beweise
eines guten und empfindungsvollen Herzens mehr-
ten die Liebe seiner Pflegeltern um ein großes,
sie beschlossen, den hoffnungsvollen Knaben studie-
ren zu lassen, und ihn einst zum Erben ihres an-
sehnlichen Vermögens einzusetzen.

Ehe der erstere Entschluß ausgeführt werden
konnte, starb seine Pflegemutter an den Folgen ei-
ner übelgeheilten Lungenentzündung, die unauf-
hörlich an ihrem Körper nagten, sie nach und
nach zum Grabe führten, und endlich dem Tode
sanft in die Arme lieferten. Ihr Gatte hatte sie
sehr geliebt, seine Trauer war daher groß, aber
des guten Konrads Jammer noch größer, er be-
weinte die gute Mutter noch immer, als des Va-
ters Auge schon trocknete, er netzte ihr Grab noch
mit Thränen, als ihn dieser auf die Schule ei-
ner benachbarten Stadt schickte, wo er den An-
fang zum Studieren machen sollte.

Viele Freude empfand dann allemal der groß-
müthige Forstmeister, wenn sein Konrad ihn in
den Schulferien besuchte, die herrlichsten Zeugnisse

G 2

ter uͤber die Grenze entflohen ſei. Man fand ihn
oft in einem Winkel verſteckt, wo er das traurige
Schickſal ſeiner unbekannten Mutter beweinte;
nur die Verſicherung, daß ihre Gefangenſchaft
ſich bald endigen werde, konnte ihn troͤſten, aber
er verſank in neue Trauer, als er durch andre er-
fuhr, daß dieſe Verſicherung nur zu ſeinem Tro-
ſte erdichtet worden ſei. Dieſe deutlichen Beweiſe
eines guten und empfindungsvollen Herzens mehr-
ten die Liebe ſeiner Pflegeltern um ein großes,
ſie beſchloſſen, den hoffnungsvollen Knaben ſtudie-
ren zu laſſen, und ihn einſt zum Erben ihres an-
ſehnlichen Vermoͤgens einzuſetzen.

Ehe der erſtere Entſchluß ausgefuͤhrt werden
konnte, ſtarb ſeine Pflegemutter an den Folgen ei-
ner uͤbelgeheilten Lungenentzuͤndung, die unauf-
hoͤrlich an ihrem Koͤrper nagten, ſie nach und
nach zum Grabe fuͤhrten, und endlich dem Tode
ſanft in die Arme lieferten. Ihr Gatte hatte ſie
ſehr geliebt, ſeine Trauer war daher groß, aber
des guten Konrads Jammer noch groͤßer, er be-
weinte die gute Mutter noch immer, als des Va-
ters Auge ſchon trocknete, er netzte ihr Grab noch
mit Thraͤnen, als ihn dieſer auf die Schule ei-
ner benachbarten Stadt ſchickte, wo er den An-
fang zum Studieren machen ſollte.

Viele Freude empfand dann allemal der groß-
muͤthige Forſtmeiſter, wenn ſein Konrad ihn in
den Schulferien beſuchte, die herrlichſten Zeugniſſe

G 2
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[99/0107] ter uͤber die Grenze entflohen ſei. Man fand ihn oft in einem Winkel verſteckt, wo er das traurige Schickſal ſeiner unbekannten Mutter beweinte; nur die Verſicherung, daß ihre Gefangenſchaft ſich bald endigen werde, konnte ihn troͤſten, aber er verſank in neue Trauer, als er durch andre er- fuhr, daß dieſe Verſicherung nur zu ſeinem Tro- ſte erdichtet worden ſei. Dieſe deutlichen Beweiſe eines guten und empfindungsvollen Herzens mehr- ten die Liebe ſeiner Pflegeltern um ein großes, ſie beſchloſſen, den hoffnungsvollen Knaben ſtudie- ren zu laſſen, und ihn einſt zum Erben ihres an- ſehnlichen Vermoͤgens einzuſetzen. Ehe der erſtere Entſchluß ausgefuͤhrt werden konnte, ſtarb ſeine Pflegemutter an den Folgen ei- ner uͤbelgeheilten Lungenentzuͤndung, die unauf- hoͤrlich an ihrem Koͤrper nagten, ſie nach und nach zum Grabe fuͤhrten, und endlich dem Tode ſanft in die Arme lieferten. Ihr Gatte hatte ſie ſehr geliebt, ſeine Trauer war daher groß, aber des guten Konrads Jammer noch groͤßer, er be- weinte die gute Mutter noch immer, als des Va- ters Auge ſchon trocknete, er netzte ihr Grab noch mit Thraͤnen, als ihn dieſer auf die Schule ei- ner benachbarten Stadt ſchickte, wo er den An- fang zum Studieren machen ſollte. Viele Freude empfand dann allemal der groß- muͤthige Forſtmeiſter, wenn ſein Konrad ihn in den Schulferien beſuchte, die herrlichſten Zeugniſſe G 2

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/107>, abgerufen am 24.11.2024.