Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796. Esther. Nun, bester Vater, sie wollen mir nicht rathen? Vater. Ich kann, ich darf nicht. Nur dein eignes Herz kann hier Rathgeber werden. Was würde es nützen, wenn das väterliche Ansehen dich zu einer Antwort zwänge, die dieß Herz nicht billigte, es würde bald an dir und mir zum Ver- räther werden, und uns beide unglücklich machen. Dein Herz denkt gut und vernünftig, ich überlasse es diesem, selbst zu erwägen, selbst zu urtheilen: Ob dieser Liebe Nahrung gewährt werden kann? Ein unüberwindliches Hinderniß trennt euch, es heißt: Religion! Willst du den Glauben deiner Väter verlassen? Oder soll er's thun? Oder willst du nur seine Buhlerin werden? das Anden- ken deiner Mutter schänden? deinen alten Vater mit Jammer tödten? Keine andere Wahl bleibt dir übrig, wähle unter beiden, wenn du ihn nicht vergessen kannst, aber laß michs nicht zu spät erfahren, damit nicht jäher Kummer mich tödtet, ehe ich mein Haus bestellt habe. Esther. Ich will ihm antworten, sie sollen es lesen, und dann urtheilen: ob ich würdig bin, ihre Tochter zu seyn? Sie eilte auf ihr Zimmer, fieng mehr als zwanzig Briefe an, zerriß sie aber alle wieder, weil jeder derselben ihr zu hart, zu grausam, oft auch zu beleidigend dünkte. Wie sie endlich kei- nen endigen konnte, gieng sie abermals zum Va- ter, und gestand ihm, daß sie zwar den festen Eſther. Nun, beſter Vater, ſie wollen mir nicht rathen? Vater. Ich kann, ich darf nicht. Nur dein eignes Herz kann hier Rathgeber werden. Was wuͤrde es nuͤtzen, wenn das vaͤterliche Anſehen dich zu einer Antwort zwaͤnge, die dieß Herz nicht billigte, es wuͤrde bald an dir und mir zum Ver- raͤther werden, und uns beide ungluͤcklich machen. Dein Herz denkt gut und vernuͤnftig, ich uͤberlaſſe es dieſem, ſelbſt zu erwaͤgen, ſelbſt zu urtheilen: Ob dieſer Liebe Nahrung gewaͤhrt werden kann? Ein unuͤberwindliches Hinderniß trennt euch, es heißt: Religion! Willſt du den Glauben deiner Vaͤter verlaſſen? Oder ſoll er's thun? Oder willſt du nur ſeine Buhlerin werden? das Anden- ken deiner Mutter ſchaͤnden? deinen alten Vater mit Jammer toͤdten? Keine andere Wahl bleibt dir uͤbrig, waͤhle unter beiden, wenn du ihn nicht vergeſſen kannſt, aber laß michs nicht zu ſpaͤt erfahren, damit nicht jaͤher Kummer mich toͤdtet, ehe ich mein Haus beſtellt habe. Eſther. Ich will ihm antworten, ſie ſollen es leſen, und dann urtheilen: ob ich wuͤrdig bin, ihre Tochter zu ſeyn? Sie eilte auf ihr Zimmer, fieng mehr als zwanzig Briefe an, zerriß ſie aber alle wieder, weil jeder derſelben ihr zu hart, zu grauſam, oft auch zu beleidigend duͤnkte. Wie ſie endlich kei- nen endigen konnte, gieng ſie abermals zum Va- ter, und geſtand ihm, daß ſie zwar den feſten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0017" n="9"/> <sp who="#ESTHER"> <speaker><hi rendition="#g">Eſther</hi>.</speaker> <p>Nun, beſter Vater, ſie wollen mir<lb/> nicht rathen?</p> </sp><lb/> <sp who="#VATER"> <speaker><hi rendition="#g">Vater</hi>.</speaker> <p>Ich kann, ich darf nicht. Nur dein<lb/> eignes Herz kann hier Rathgeber werden. Was<lb/> wuͤrde es nuͤtzen, wenn das vaͤterliche Anſehen<lb/> dich zu einer Antwort zwaͤnge, die dieß Herz nicht<lb/> billigte, es wuͤrde bald an dir und mir zum Ver-<lb/> raͤther werden, und uns beide ungluͤcklich machen.<lb/> Dein Herz denkt gut und vernuͤnftig, ich uͤberlaſſe<lb/> es dieſem, ſelbſt zu erwaͤgen, ſelbſt zu urtheilen:<lb/> Ob dieſer Liebe Nahrung gewaͤhrt werden kann?<lb/> Ein unuͤberwindliches Hinderniß trennt euch, es<lb/> heißt: Religion! Willſt du den Glauben deiner<lb/> Vaͤter verlaſſen? Oder ſoll er's thun? Oder<lb/> willſt du nur ſeine Buhlerin werden? das Anden-<lb/> ken deiner Mutter ſchaͤnden? deinen alten Vater<lb/> mit Jammer toͤdten? Keine andere Wahl bleibt<lb/> dir uͤbrig, waͤhle unter beiden, wenn du ihn<lb/> nicht vergeſſen kannſt, aber laß michs nicht zu<lb/> ſpaͤt erfahren, damit nicht jaͤher Kummer mich<lb/> toͤdtet, ehe ich mein Haus beſtellt habe.</p> </sp><lb/> <sp who="#ESTHER"> <speaker><hi rendition="#g">Eſther</hi>.</speaker> <p>Ich will ihm antworten, ſie ſollen<lb/> es leſen, und dann urtheilen: ob ich wuͤrdig bin,<lb/> ihre Tochter zu ſeyn?</p><lb/> <p>Sie eilte auf ihr Zimmer, fieng mehr als<lb/> zwanzig Briefe an, zerriß ſie aber alle wieder,<lb/> weil jeder derſelben ihr zu hart, zu grauſam, oft<lb/> auch zu beleidigend duͤnkte. Wie ſie endlich kei-<lb/> nen endigen konnte, gieng ſie abermals zum Va-<lb/> ter, und geſtand ihm, daß ſie zwar den feſten<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [9/0017]
Eſther. Nun, beſter Vater, ſie wollen mir
nicht rathen?
Vater. Ich kann, ich darf nicht. Nur dein
eignes Herz kann hier Rathgeber werden. Was
wuͤrde es nuͤtzen, wenn das vaͤterliche Anſehen
dich zu einer Antwort zwaͤnge, die dieß Herz nicht
billigte, es wuͤrde bald an dir und mir zum Ver-
raͤther werden, und uns beide ungluͤcklich machen.
Dein Herz denkt gut und vernuͤnftig, ich uͤberlaſſe
es dieſem, ſelbſt zu erwaͤgen, ſelbſt zu urtheilen:
Ob dieſer Liebe Nahrung gewaͤhrt werden kann?
Ein unuͤberwindliches Hinderniß trennt euch, es
heißt: Religion! Willſt du den Glauben deiner
Vaͤter verlaſſen? Oder ſoll er's thun? Oder
willſt du nur ſeine Buhlerin werden? das Anden-
ken deiner Mutter ſchaͤnden? deinen alten Vater
mit Jammer toͤdten? Keine andere Wahl bleibt
dir uͤbrig, waͤhle unter beiden, wenn du ihn
nicht vergeſſen kannſt, aber laß michs nicht zu
ſpaͤt erfahren, damit nicht jaͤher Kummer mich
toͤdtet, ehe ich mein Haus beſtellt habe.
Eſther. Ich will ihm antworten, ſie ſollen
es leſen, und dann urtheilen: ob ich wuͤrdig bin,
ihre Tochter zu ſeyn?
Sie eilte auf ihr Zimmer, fieng mehr als
zwanzig Briefe an, zerriß ſie aber alle wieder,
weil jeder derſelben ihr zu hart, zu grauſam, oft
auch zu beleidigend duͤnkte. Wie ſie endlich kei-
nen endigen konnte, gieng ſie abermals zum Va-
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