Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796. Vater. Gott stärke dich, mehr kann ich dir auf deine Frage nicht antworten, weil sie mir neuen Kummer weissagt. -- -- Der Plan des guten Alten wurde am andern Morgen schon ausgeführt, und die Trauer des Hauses allen Freunden bekannt gemacht. Der küh- ne Friedrich, welcher keine Entdeckung ahndete, hoffte ausgenommen zu seyn vom allgemeinen Ver- bote, er ließ sich am Nachmittage bei der schönen Esther melden. Als ihm aber die Nachricht ward, daß Religion ihr die Annahme eines jeden Besuchs zur Trauerzeit streng verbiete, so schlich er trau- rig nach Hause, und schickte ihr bald nachher ei- nen Brief, in welchem er die Größe seiner Liebe zu ihr zu schildern suchte, aber doch nicht zu schil- dern vermochte, und sie endlich bei allem, was ihr heilig und theuer zu seyn dünke, beschwor, ihm zu erlauben, daß er diese martervolle Trauer- zeit ihr wenigstens des Tags einmal schreiben, und Antwort von ihr hoffen könne. Esther las diesen Brief mit innigem Vergnügen, denn sie liebte Friedrichen wirklich schon innig und zärtlich; aber ihr Vorsatz war noch zu neu, die kindliche Liebe zum Besten der Väter zu groß; sie kämpf- te lange, endlich siegte die Vernunft doch, sie eil- te mit dem offenen Briefe zum Vater, und foder- te Rath, wie und was sie antworten solle? Der Vater las den Brief aufmerksam, und gab ihr solchen stillschweigend zurück. Vater. Gott ſtaͤrke dich, mehr kann ich dir auf deine Frage nicht antworten, weil ſie mir neuen Kummer weiſſagt. — — Der Plan des guten Alten wurde am andern Morgen ſchon ausgefuͤhrt, und die Trauer des Hauſes allen Freunden bekannt gemacht. Der kuͤh- ne Friedrich, welcher keine Entdeckung ahndete, hoffte ausgenommen zu ſeyn vom allgemeinen Ver- bote, er ließ ſich am Nachmittage bei der ſchoͤnen Eſther melden. Als ihm aber die Nachricht ward, daß Religion ihr die Annahme eines jeden Beſuchs zur Trauerzeit ſtreng verbiete, ſo ſchlich er trau- rig nach Hauſe, und ſchickte ihr bald nachher ei- nen Brief, in welchem er die Groͤße ſeiner Liebe zu ihr zu ſchildern ſuchte, aber doch nicht zu ſchil- dern vermochte, und ſie endlich bei allem, was ihr heilig und theuer zu ſeyn duͤnke, beſchwor, ihm zu erlauben, daß er dieſe martervolle Trauer- zeit ihr wenigſtens des Tags einmal ſchreiben, und Antwort von ihr hoffen koͤnne. Eſther las dieſen Brief mit innigem Vergnuͤgen, denn ſie liebte Friedrichen wirklich ſchon innig und zaͤrtlich; aber ihr Vorſatz war noch zu neu, die kindliche Liebe zum Beſten der Vaͤter zu groß; ſie kaͤmpf- te lange, endlich ſiegte die Vernunft doch, ſie eil- te mit dem offenen Briefe zum Vater, und foder- te Rath, wie und was ſie antworten ſolle? Der Vater las den Brief aufmerkſam, und gab ihr ſolchen ſtillſchweigend zuruͤck. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0016" n="8"/> <sp who="#VATER"> <speaker><hi rendition="#g">Vater</hi>.</speaker> <p>Gott ſtaͤrke dich, mehr kann ich dir<lb/> auf deine Frage nicht antworten, weil ſie mir<lb/> neuen Kummer weiſſagt. — —</p><lb/> <p>Der Plan des guten Alten wurde am andern<lb/> Morgen ſchon ausgefuͤhrt, und die Trauer des<lb/> Hauſes allen Freunden bekannt gemacht. Der kuͤh-<lb/> ne Friedrich, welcher keine Entdeckung ahndete,<lb/> hoffte ausgenommen zu ſeyn vom allgemeinen Ver-<lb/> bote, er ließ ſich am Nachmittage bei der ſchoͤnen<lb/> Eſther melden. Als ihm aber die Nachricht ward,<lb/> daß Religion ihr die Annahme eines jeden Beſuchs<lb/> zur Trauerzeit ſtreng verbiete, ſo ſchlich er trau-<lb/> rig nach Hauſe, und ſchickte ihr bald nachher ei-<lb/> nen Brief, in welchem er die Groͤße ſeiner Liebe<lb/> zu ihr zu ſchildern ſuchte, aber doch nicht zu ſchil-<lb/> dern vermochte, und ſie endlich bei allem, was<lb/> ihr heilig und theuer zu ſeyn duͤnke, beſchwor,<lb/> ihm zu erlauben, daß er dieſe martervolle Trauer-<lb/> zeit ihr wenigſtens des Tags einmal ſchreiben,<lb/> und Antwort von ihr hoffen koͤnne. Eſther las<lb/> dieſen Brief mit innigem Vergnuͤgen, denn ſie<lb/> liebte Friedrichen wirklich ſchon innig und zaͤrtlich;<lb/> aber ihr Vorſatz war noch zu neu, die kindliche<lb/> Liebe zum Beſten der Vaͤter zu groß; ſie kaͤmpf-<lb/> te lange, endlich ſiegte die Vernunft doch, ſie eil-<lb/> te mit dem offenen Briefe zum Vater, und foder-<lb/> te Rath, wie und was ſie antworten ſolle? Der<lb/> Vater las den Brief aufmerkſam, und gab ihr<lb/> ſolchen ſtillſchweigend zuruͤck.</p> </sp><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [8/0016]
Vater. Gott ſtaͤrke dich, mehr kann ich dir
auf deine Frage nicht antworten, weil ſie mir
neuen Kummer weiſſagt. — —
Der Plan des guten Alten wurde am andern
Morgen ſchon ausgefuͤhrt, und die Trauer des
Hauſes allen Freunden bekannt gemacht. Der kuͤh-
ne Friedrich, welcher keine Entdeckung ahndete,
hoffte ausgenommen zu ſeyn vom allgemeinen Ver-
bote, er ließ ſich am Nachmittage bei der ſchoͤnen
Eſther melden. Als ihm aber die Nachricht ward,
daß Religion ihr die Annahme eines jeden Beſuchs
zur Trauerzeit ſtreng verbiete, ſo ſchlich er trau-
rig nach Hauſe, und ſchickte ihr bald nachher ei-
nen Brief, in welchem er die Groͤße ſeiner Liebe
zu ihr zu ſchildern ſuchte, aber doch nicht zu ſchil-
dern vermochte, und ſie endlich bei allem, was
ihr heilig und theuer zu ſeyn duͤnke, beſchwor,
ihm zu erlauben, daß er dieſe martervolle Trauer-
zeit ihr wenigſtens des Tags einmal ſchreiben,
und Antwort von ihr hoffen koͤnne. Eſther las
dieſen Brief mit innigem Vergnuͤgen, denn ſie
liebte Friedrichen wirklich ſchon innig und zaͤrtlich;
aber ihr Vorſatz war noch zu neu, die kindliche
Liebe zum Beſten der Vaͤter zu groß; ſie kaͤmpf-
te lange, endlich ſiegte die Vernunft doch, ſie eil-
te mit dem offenen Briefe zum Vater, und foder-
te Rath, wie und was ſie antworten ſolle? Der
Vater las den Brief aufmerkſam, und gab ihr
ſolchen ſtillſchweigend zuruͤck.
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