Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
erfuhr, wohin sie zog, und wenn sie wiederkeh-
ren würde.

Kein Mann durfte unter dieser Zeit sich ihrer
Schwelle nahen, keiner unter den vielen Män-
nern der Stadt konnte sich rühmen, daß er mit
ihr nach ihres Vaters Tode ein Wort gesprochen
habe, ihr Mädchen nahm jede Geschäftbotschaft
an, und brachte Antwort. Als sie ihren Geburts-
ort verlassen hatte, gieng unter den andächtigen
Matronen die Sage umher, daß man spät am
Abende einigemal den katholischen Geistlichen des
Orts in ihr Haus hätte schleichen sehen, und daß
die schöne Esther wahrscheinlich eine Christin ge-
worden sei. So wenig man sonst Sagen dieser
Art sein Zutrauen schenken kann, so bewieß doch
die Folge, daß die alten Weiber dießmal hell ge-
sehen hatten. Esther suchte wirklich Trost für ihr
unnennbares Leiden in der christlichen Religion,
die so mächtig im Elende stärkt und labt, weil
sie uns die irdische Prüfung als nothwendig zur
ewigen Seligkeit schildert, und ihren göttlichen
Stifter als den unschuldigsten Büßer und größten
Dulder zur Nachahmung aufstellte. Möglich, daß
auch Schwärmerei, die emsige Begleiterin der hoff-
nungslosen Liebe, ihre Absicht förderte, möglich,
daß sie eben deswegen die katholische Religion
wählte, weil nur diese sie fähig machte, abge-
schieden von der Welt, getrennt vom männlichen
Geschlechte, ihre Tage in stiller Schwermuth en-
den zu können.

erfuhr, wohin ſie zog, und wenn ſie wiederkeh-
ren wuͤrde.

Kein Mann durfte unter dieſer Zeit ſich ihrer
Schwelle nahen, keiner unter den vielen Maͤn-
nern der Stadt konnte ſich ruͤhmen, daß er mit
ihr nach ihres Vaters Tode ein Wort geſprochen
habe, ihr Maͤdchen nahm jede Geſchaͤftbotſchaft
an, und brachte Antwort. Als ſie ihren Geburts-
ort verlaſſen hatte, gieng unter den andaͤchtigen
Matronen die Sage umher, daß man ſpaͤt am
Abende einigemal den katholiſchen Geiſtlichen des
Orts in ihr Haus haͤtte ſchleichen ſehen, und daß
die ſchoͤne Eſther wahrſcheinlich eine Chriſtin ge-
worden ſei. So wenig man ſonſt Sagen dieſer
Art ſein Zutrauen ſchenken kann, ſo bewieß doch
die Folge, daß die alten Weiber dießmal hell ge-
ſehen hatten. Eſther ſuchte wirklich Troſt fuͤr ihr
unnennbares Leiden in der chriſtlichen Religion,
die ſo maͤchtig im Elende ſtaͤrkt und labt, weil
ſie uns die irdiſche Pruͤfung als nothwendig zur
ewigen Seligkeit ſchildert, und ihren goͤttlichen
Stifter als den unſchuldigſten Buͤßer und groͤßten
Dulder zur Nachahmung aufſtellte. Moͤglich, daß
auch Schwaͤrmerei, die emſige Begleiterin der hoff-
nungsloſen Liebe, ihre Abſicht foͤrderte, moͤglich,
daß ſie eben deswegen die katholiſche Religion
waͤhlte, weil nur dieſe ſie faͤhig machte, abge-
ſchieden von der Welt, getrennt vom maͤnnlichen
Geſchlechte, ihre Tage in ſtiller Schwermuth en-
den zu koͤnnen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <sp who="#ESTHER">
          <p><pb facs="#f0031" n="23"/>
erfuhr, wohin &#x017F;ie zog, und wenn &#x017F;ie wiederkeh-<lb/>
ren wu&#x0364;rde.</p><lb/>
          <p>Kein Mann durfte unter die&#x017F;er Zeit &#x017F;ich ihrer<lb/>
Schwelle nahen, keiner unter den vielen Ma&#x0364;n-<lb/>
nern der Stadt konnte &#x017F;ich ru&#x0364;hmen, daß er mit<lb/>
ihr nach ihres Vaters Tode ein Wort ge&#x017F;prochen<lb/>
habe, ihr Ma&#x0364;dchen nahm jede Ge&#x017F;cha&#x0364;ftbot&#x017F;chaft<lb/>
an, und brachte Antwort. Als &#x017F;ie ihren Geburts-<lb/>
ort verla&#x017F;&#x017F;en hatte, gieng unter den anda&#x0364;chtigen<lb/>
Matronen die Sage umher, daß man &#x017F;pa&#x0364;t am<lb/>
Abende einigemal den katholi&#x017F;chen Gei&#x017F;tlichen des<lb/>
Orts in ihr Haus ha&#x0364;tte &#x017F;chleichen &#x017F;ehen, und daß<lb/>
die &#x017F;cho&#x0364;ne E&#x017F;ther wahr&#x017F;cheinlich eine Chri&#x017F;tin ge-<lb/>
worden &#x017F;ei. So wenig man &#x017F;on&#x017F;t Sagen die&#x017F;er<lb/>
Art &#x017F;ein Zutrauen &#x017F;chenken kann, &#x017F;o bewieß doch<lb/>
die Folge, daß die alten Weiber dießmal hell ge-<lb/>
&#x017F;ehen hatten. E&#x017F;ther &#x017F;uchte wirklich Tro&#x017F;t fu&#x0364;r ihr<lb/>
unnennbares Leiden in der chri&#x017F;tlichen Religion,<lb/>
die &#x017F;o ma&#x0364;chtig im Elende &#x017F;ta&#x0364;rkt und labt, weil<lb/>
&#x017F;ie uns die irdi&#x017F;che Pru&#x0364;fung als nothwendig zur<lb/>
ewigen Seligkeit &#x017F;childert, und ihren go&#x0364;ttlichen<lb/>
Stifter als den un&#x017F;chuldig&#x017F;ten Bu&#x0364;ßer und gro&#x0364;ßten<lb/>
Dulder zur Nachahmung auf&#x017F;tellte. Mo&#x0364;glich, daß<lb/>
auch Schwa&#x0364;rmerei, die em&#x017F;ige Begleiterin der hoff-<lb/>
nungslo&#x017F;en Liebe, ihre Ab&#x017F;icht fo&#x0364;rderte, mo&#x0364;glich,<lb/>
daß &#x017F;ie eben deswegen die katholi&#x017F;che Religion<lb/>
wa&#x0364;hlte, weil nur die&#x017F;e &#x017F;ie fa&#x0364;hig machte, abge-<lb/>
&#x017F;chieden von der Welt, getrennt vom ma&#x0364;nnlichen<lb/>
Ge&#x017F;chlechte, ihre Tage in &#x017F;tiller Schwermuth en-<lb/>
den zu ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        </sp>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0031] erfuhr, wohin ſie zog, und wenn ſie wiederkeh- ren wuͤrde. Kein Mann durfte unter dieſer Zeit ſich ihrer Schwelle nahen, keiner unter den vielen Maͤn- nern der Stadt konnte ſich ruͤhmen, daß er mit ihr nach ihres Vaters Tode ein Wort geſprochen habe, ihr Maͤdchen nahm jede Geſchaͤftbotſchaft an, und brachte Antwort. Als ſie ihren Geburts- ort verlaſſen hatte, gieng unter den andaͤchtigen Matronen die Sage umher, daß man ſpaͤt am Abende einigemal den katholiſchen Geiſtlichen des Orts in ihr Haus haͤtte ſchleichen ſehen, und daß die ſchoͤne Eſther wahrſcheinlich eine Chriſtin ge- worden ſei. So wenig man ſonſt Sagen dieſer Art ſein Zutrauen ſchenken kann, ſo bewieß doch die Folge, daß die alten Weiber dießmal hell ge- ſehen hatten. Eſther ſuchte wirklich Troſt fuͤr ihr unnennbares Leiden in der chriſtlichen Religion, die ſo maͤchtig im Elende ſtaͤrkt und labt, weil ſie uns die irdiſche Pruͤfung als nothwendig zur ewigen Seligkeit ſchildert, und ihren goͤttlichen Stifter als den unſchuldigſten Buͤßer und groͤßten Dulder zur Nachahmung aufſtellte. Moͤglich, daß auch Schwaͤrmerei, die emſige Begleiterin der hoff- nungsloſen Liebe, ihre Abſicht foͤrderte, moͤglich, daß ſie eben deswegen die katholiſche Religion waͤhlte, weil nur dieſe ſie faͤhig machte, abge- ſchieden von der Welt, getrennt vom maͤnnlichen Geſchlechte, ihre Tage in ſtiller Schwermuth en- den zu koͤnnen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/31
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/31>, abgerufen am 21.11.2024.