Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
Dächer der benachbarten Häuser sehen, doch wa- ren dieß nur die Spitzen derselben, und dort kein Fenster angebracht, durch welches die Neugierde die einsamen Nonnen hätte beunruhigen können; links sah man aber hohe waldichte Gebirge, wel- che mächtig über die Mauern empor ragten, doch stundenweit davon entfernt lagen. Wenn dann über diese erhabnen Gebirge am heitern Abende die Sonne nach und nach hinabsank, und nun öde Stille im Garten herrschte, da weilte oft Karoline noch stundenlang darinne, und fragte oft im jam- mernden Tone den Schöpfer: Warum nicht auch der Abend ihres Leidens nahe? Warum sie nicht gleich der Sonne in die Nacht des Grabes sinken, und dort verklärt wieder erwachen könne? Einst stand sie mit diesem Gedanken beschäfti- get noch immer im Garten, den alle Nonnen schon verlassen hatten; ihr Herz fühlte heute be- sonders die Schmerzen der eiternden Wunde, sie erinnerte sich eben eines Abends, den sie in Ge- sellschaft ihres Friedrichs wonnevoll genossen hat- te, sie weinte, rang die Hände, und fuhr endlich bebend zurück, als neben ihr etwas weisses vor- über in einen nahen Strauch flog, sie faßte Muth, trat näher, und fand einen Stein, der mit Papier umwickelt war, sie entfaltete solches, und las folgende Worte, die in englischer Sprache dar- auf geschrieben waren: "Unglückliche Esther! "wenn du noch Mitleid mit dem unglücklichsten "aller Menschen, mit deinem treuen Friedrich
Daͤcher der benachbarten Haͤuſer ſehen, doch wa- ren dieß nur die Spitzen derſelben, und dort kein Fenſter angebracht, durch welches die Neugierde die einſamen Nonnen haͤtte beunruhigen koͤnnen; links ſah man aber hohe waldichte Gebirge, wel- che maͤchtig uͤber die Mauern empor ragten, doch ſtundenweit davon entfernt lagen. Wenn dann uͤber dieſe erhabnen Gebirge am heitern Abende die Sonne nach und nach hinabſank, und nun oͤde Stille im Garten herrſchte, da weilte oft Karoline noch ſtundenlang darinne, und fragte oft im jam- mernden Tone den Schoͤpfer: Warum nicht auch der Abend ihres Leidens nahe? Warum ſie nicht gleich der Sonne in die Nacht des Grabes ſinken, und dort verklaͤrt wieder erwachen koͤnne? Einſt ſtand ſie mit dieſem Gedanken beſchaͤfti- get noch immer im Garten, den alle Nonnen ſchon verlaſſen hatten; ihr Herz fuͤhlte heute be- ſonders die Schmerzen der eiternden Wunde, ſie erinnerte ſich eben eines Abends, den ſie in Ge- ſellſchaft ihres Friedrichs wonnevoll genoſſen hat- te, ſie weinte, rang die Haͤnde, und fuhr endlich bebend zuruͤck, als neben ihr etwas weiſſes vor- uͤber in einen nahen Strauch flog, ſie faßte Muth, trat naͤher, und fand einen Stein, der mit Papier umwickelt war, ſie entfaltete ſolches, und las folgende Worte, die in engliſcher Sprache dar- auf geſchrieben waren: „Ungluͤckliche Eſther! 〟wenn du noch Mitleid mit dem ungluͤcklichſten 〟aller Menſchen, mit deinem treuen Friedrich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ESTHER"> <p><pb facs="#f0035" n="27"/> Daͤcher der benachbarten Haͤuſer ſehen, doch wa-<lb/> ren dieß nur die Spitzen derſelben, und dort kein<lb/> Fenſter angebracht, durch welches die Neugierde<lb/> die einſamen Nonnen haͤtte beunruhigen koͤnnen;<lb/> links ſah man aber hohe waldichte Gebirge, wel-<lb/> che maͤchtig uͤber die Mauern empor ragten, doch<lb/> ſtundenweit davon entfernt lagen. Wenn dann<lb/> uͤber dieſe erhabnen Gebirge am heitern Abende<lb/> die Sonne nach und nach hinabſank, und nun oͤde<lb/> Stille im Garten herrſchte, da weilte oft Karoline<lb/> noch ſtundenlang darinne, und fragte oft im jam-<lb/> mernden Tone den Schoͤpfer: Warum nicht auch<lb/> der Abend ihres Leidens nahe? Warum ſie nicht<lb/> gleich der Sonne in die Nacht des Grabes ſinken,<lb/> und dort verklaͤrt wieder erwachen koͤnne?</p><lb/> <p>Einſt ſtand ſie mit dieſem Gedanken beſchaͤfti-<lb/> get noch immer im Garten, den alle Nonnen<lb/> ſchon verlaſſen hatten; ihr Herz fuͤhlte heute be-<lb/> ſonders die Schmerzen der eiternden Wunde, ſie<lb/> erinnerte ſich eben eines Abends, den ſie in Ge-<lb/> ſellſchaft ihres Friedrichs wonnevoll genoſſen hat-<lb/> te, ſie weinte, rang die Haͤnde, und fuhr endlich<lb/> bebend zuruͤck, als neben ihr etwas weiſſes vor-<lb/> uͤber in einen nahen Strauch flog, ſie faßte<lb/> Muth, trat naͤher, und fand einen Stein, der mit<lb/> Papier umwickelt war, ſie entfaltete ſolches, und<lb/> las folgende Worte, die in engliſcher Sprache dar-<lb/> auf geſchrieben waren: „Ungluͤckliche Eſther!<lb/> 〟wenn du noch Mitleid mit dem ungluͤcklichſten<lb/> 〟aller Menſchen, mit deinem treuen Friedrich<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [27/0035]
Daͤcher der benachbarten Haͤuſer ſehen, doch wa-
ren dieß nur die Spitzen derſelben, und dort kein
Fenſter angebracht, durch welches die Neugierde
die einſamen Nonnen haͤtte beunruhigen koͤnnen;
links ſah man aber hohe waldichte Gebirge, wel-
che maͤchtig uͤber die Mauern empor ragten, doch
ſtundenweit davon entfernt lagen. Wenn dann
uͤber dieſe erhabnen Gebirge am heitern Abende
die Sonne nach und nach hinabſank, und nun oͤde
Stille im Garten herrſchte, da weilte oft Karoline
noch ſtundenlang darinne, und fragte oft im jam-
mernden Tone den Schoͤpfer: Warum nicht auch
der Abend ihres Leidens nahe? Warum ſie nicht
gleich der Sonne in die Nacht des Grabes ſinken,
und dort verklaͤrt wieder erwachen koͤnne?
Einſt ſtand ſie mit dieſem Gedanken beſchaͤfti-
get noch immer im Garten, den alle Nonnen
ſchon verlaſſen hatten; ihr Herz fuͤhlte heute be-
ſonders die Schmerzen der eiternden Wunde, ſie
erinnerte ſich eben eines Abends, den ſie in Ge-
ſellſchaft ihres Friedrichs wonnevoll genoſſen hat-
te, ſie weinte, rang die Haͤnde, und fuhr endlich
bebend zuruͤck, als neben ihr etwas weiſſes vor-
uͤber in einen nahen Strauch flog, ſie faßte
Muth, trat naͤher, und fand einen Stein, der mit
Papier umwickelt war, ſie entfaltete ſolches, und
las folgende Worte, die in engliſcher Sprache dar-
auf geſchrieben waren: „Ungluͤckliche Eſther!
〟wenn du noch Mitleid mit dem ungluͤcklichſten
〟aller Menſchen, mit deinem treuen Friedrich
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