Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
"hast, so blicke auf das nächste Dach, und "schließe aus seinem angstvollen Händeringen, "auf seine schreckliche Quaal. Wenn dich aber "hartherzige Menschen wie mich betrogen, wenn "du ihn auch im Kloster noch nicht vergessen hast, "so komme in der Nacht, welche dem morgenden "Tage folgt, hinab in die Kirche, du wirst mich "in der Todtenkapelle rechts im ersten Betstuhle "versteckt finden. An einem leisen, dreimal wie- "derholten Husten, werde ich dich erkennen, und "in deine Arme eilen. Ich wählte absichtlich die- "se unbekannte Sprache, damit, wenn der küh- "ne Wurf mißlänge, das Blatt nicht mein und "dein Verräther würde." Karoline ward durch diesen Brief in einen schrecklichen Zustand versetzt, ihr erster Blick war zu Gott um Hülfe, ihr zwei- ter nach dem Dache, auf welchem sie ihren Frie- drich wiedersehen sollte. Er war's wirklich, er hatte die höchsten Sparren des Dachs erklettert, die Ziegel desselben abgelöst, und blickte mit halb- hervorgebognem Körper in den Garten hinab. Die Abendröthe färbte sein Gesicht, die letzten, einzel- nen Strahlen der schon untergegangenen Sonne beleuchteten es dann und wann noch hell. Karo- line sah, wie er fürchterlich die Hände rang, und sie wieder flehend zu ihr hinabstreckte, sie winkte ihm mit ihrem weissen Tuche, zeigte einigemal mit der Hand auf den Thurm der Kirche, und eilte von dannen, um in ihrer Zelle Kräfte und Fas- sung zu sammeln; mehr als einmal sank sie athem-
〟haſt, ſo blicke auf das naͤchſte Dach, und 〟ſchließe aus ſeinem angſtvollen Haͤnderingen, 〟auf ſeine ſchreckliche Quaal. Wenn dich aber 〟hartherzige Menſchen wie mich betrogen, wenn 〟du ihn auch im Kloſter noch nicht vergeſſen haſt, 〟ſo komme in der Nacht, welche dem morgenden 〟Tage folgt, hinab in die Kirche, du wirſt mich 〟in der Todtenkapelle rechts im erſten Betſtuhle 〟verſteckt finden. An einem leiſen, dreimal wie- 〟derholten Huſten, werde ich dich erkennen, und 〟in deine Arme eilen. Ich waͤhlte abſichtlich die- 〟ſe unbekannte Sprache, damit, wenn der kuͤh- 〟ne Wurf mißlaͤnge, das Blatt nicht mein und 〟dein Verraͤther wuͤrde.“ Karoline ward durch dieſen Brief in einen ſchrecklichen Zuſtand verſetzt, ihr erſter Blick war zu Gott um Huͤlfe, ihr zwei- ter nach dem Dache, auf welchem ſie ihren Frie- drich wiederſehen ſollte. Er war's wirklich, er hatte die hoͤchſten Sparren des Dachs erklettert, die Ziegel deſſelben abgeloͤst, und blickte mit halb- hervorgebognem Koͤrper in den Garten hinab. Die Abendroͤthe faͤrbte ſein Geſicht, die letzten, einzel- nen Strahlen der ſchon untergegangenen Sonne beleuchteten es dann und wann noch hell. Karo- line ſah, wie er fuͤrchterlich die Haͤnde rang, und ſie wieder flehend zu ihr hinabſtreckte, ſie winkte ihm mit ihrem weiſſen Tuche, zeigte einigemal mit der Hand auf den Thurm der Kirche, und eilte von dannen, um in ihrer Zelle Kraͤfte und Faſ- ſung zu ſammeln; mehr als einmal ſank ſie athem- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ESTHER"> <p><pb facs="#f0036" n="28"/> 〟haſt, ſo blicke auf das naͤchſte Dach, und<lb/> 〟ſchließe aus ſeinem angſtvollen Haͤnderingen,<lb/> 〟auf ſeine ſchreckliche Quaal. Wenn dich aber<lb/> 〟hartherzige Menſchen wie mich betrogen, wenn<lb/> 〟du ihn auch im Kloſter noch nicht vergeſſen haſt,<lb/> 〟ſo komme in der Nacht, welche dem morgenden<lb/> 〟Tage folgt, hinab in die Kirche, du wirſt mich<lb/> 〟in der Todtenkapelle rechts im erſten Betſtuhle<lb/> 〟verſteckt finden. An einem leiſen, dreimal wie-<lb/> 〟derholten Huſten, werde ich dich erkennen, und<lb/> 〟in deine Arme eilen. Ich waͤhlte abſichtlich die-<lb/> 〟ſe unbekannte Sprache, damit, wenn der kuͤh-<lb/> 〟ne Wurf mißlaͤnge, das Blatt nicht mein und<lb/> 〟dein Verraͤther wuͤrde.“ Karoline ward durch<lb/> dieſen Brief in einen ſchrecklichen Zuſtand verſetzt,<lb/> ihr erſter Blick war zu Gott um Huͤlfe, ihr zwei-<lb/> ter nach dem Dache, auf welchem ſie ihren Frie-<lb/> drich wiederſehen ſollte. Er war's wirklich, er<lb/> hatte die hoͤchſten Sparren des Dachs erklettert,<lb/> die Ziegel deſſelben abgeloͤst, und blickte mit halb-<lb/> hervorgebognem Koͤrper in den Garten hinab. Die<lb/> Abendroͤthe faͤrbte ſein Geſicht, die letzten, einzel-<lb/> nen Strahlen der ſchon untergegangenen Sonne<lb/> beleuchteten es dann und wann noch hell. Karo-<lb/> line ſah, wie er fuͤrchterlich die Haͤnde rang, und<lb/> ſie wieder flehend zu ihr hinabſtreckte, ſie winkte<lb/> ihm mit ihrem weiſſen Tuche, zeigte einigemal mit<lb/> der Hand auf den Thurm der Kirche, und eilte<lb/> von dannen, um in ihrer Zelle Kraͤfte und Faſ-<lb/> ſung zu ſammeln; mehr als einmal ſank ſie athem-<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [28/0036]
〟haſt, ſo blicke auf das naͤchſte Dach, und
〟ſchließe aus ſeinem angſtvollen Haͤnderingen,
〟auf ſeine ſchreckliche Quaal. Wenn dich aber
〟hartherzige Menſchen wie mich betrogen, wenn
〟du ihn auch im Kloſter noch nicht vergeſſen haſt,
〟ſo komme in der Nacht, welche dem morgenden
〟Tage folgt, hinab in die Kirche, du wirſt mich
〟in der Todtenkapelle rechts im erſten Betſtuhle
〟verſteckt finden. An einem leiſen, dreimal wie-
〟derholten Huſten, werde ich dich erkennen, und
〟in deine Arme eilen. Ich waͤhlte abſichtlich die-
〟ſe unbekannte Sprache, damit, wenn der kuͤh-
〟ne Wurf mißlaͤnge, das Blatt nicht mein und
〟dein Verraͤther wuͤrde.“ Karoline ward durch
dieſen Brief in einen ſchrecklichen Zuſtand verſetzt,
ihr erſter Blick war zu Gott um Huͤlfe, ihr zwei-
ter nach dem Dache, auf welchem ſie ihren Frie-
drich wiederſehen ſollte. Er war's wirklich, er
hatte die hoͤchſten Sparren des Dachs erklettert,
die Ziegel deſſelben abgeloͤst, und blickte mit halb-
hervorgebognem Koͤrper in den Garten hinab. Die
Abendroͤthe faͤrbte ſein Geſicht, die letzten, einzel-
nen Strahlen der ſchon untergegangenen Sonne
beleuchteten es dann und wann noch hell. Karo-
line ſah, wie er fuͤrchterlich die Haͤnde rang, und
ſie wieder flehend zu ihr hinabſtreckte, ſie winkte
ihm mit ihrem weiſſen Tuche, zeigte einigemal mit
der Hand auf den Thurm der Kirche, und eilte
von dannen, um in ihrer Zelle Kraͤfte und Faſ-
ſung zu ſammeln; mehr als einmal ſank ſie athem-
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| Zitationshilfe: | Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/36>, abgerufen am 21.11.2024. |
