Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.und nach kurzer Zeit so innigen Geschmack an der Ehe noch ein Jahr vergieng, fühlte Wilhel- und nach kurzer Zeit ſo innigen Geſchmack an der Ehe noch ein Jahr vergieng, fuͤhlte Wilhel- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0079" n="71"/> und nach kurzer Zeit ſo innigen Geſchmack an der<lb/> Muſik, daß ſie oft den ganzen Tag dazu verwen-<lb/> dete, und bald auch in dieſer Kunſt die Bewun-<lb/> derung aller erregte. Franzens Eifer ermuͤdete<lb/> nie, er war wirklich ſehr geſchickt, und erfand<lb/> verſchiedene Methoden, wodurch er ſeiner blinden<lb/> Schuͤlerin den Unterricht ſehr erleichterte. Sie<lb/> war dankbar, und lohnte ſeine Muͤhe mit anſehn-<lb/> lichen Geſchenken. Er ſang einen aͤußerſt ange-<lb/> nehmen Tenor, mußte Wilhelminen oft ſtunden-<lb/> lang vorſingen, und erndete ihren Beifall im vol-<lb/> len Maße.</p><lb/> <p>Ehe noch ein Jahr vergieng, fuͤhlte Wilhel-<lb/> mine, daß nicht allein Dankbarkeit, ſondern auch<lb/> wahre, aͤchte Liebe ihr Franzens Umgang ſo an-<lb/> genehm und nothwendig machten. Der ſeltene<lb/> Eifer des Juͤnglings, ſeine unermuͤdete Geduld<lb/> im Unterrichte, ſeine edle Seele, ſein gutes red-<lb/> liches Herz, das ſich bei jeder Gelegenheit ſo vor-<lb/> theilhaft auszeichnete, ſeine ſanfte, melodiſche<lb/> Stimme, das allgemeine Lob ſeiner Schoͤnheit,<lb/> hatte unbemerkt ihr Herz gefeſſelt, und fieng nun<lb/> maͤchtig an, Gegenliebe zu heiſchen. Oft ſprach<lb/> ſie mit ihm von ſeiner kuͤnftigen Beſtimmung, und<lb/> forſchte dann aͤngſtlich: Ob er ſich ſchon eine<lb/> Gattin auserkohren habe? Freudig klopfte ihr<lb/> Herz, wenn der gute Juͤngling dieſe Frage im<lb/> aufrichtigſten Tone verneinte, aber weh that es<lb/> auch dieſem, wenn er den ſanften Haͤndedruck,<lb/> den er zum Lohne fuͤr dieſe Nachricht erhielt,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [71/0079]
und nach kurzer Zeit ſo innigen Geſchmack an der
Muſik, daß ſie oft den ganzen Tag dazu verwen-
dete, und bald auch in dieſer Kunſt die Bewun-
derung aller erregte. Franzens Eifer ermuͤdete
nie, er war wirklich ſehr geſchickt, und erfand
verſchiedene Methoden, wodurch er ſeiner blinden
Schuͤlerin den Unterricht ſehr erleichterte. Sie
war dankbar, und lohnte ſeine Muͤhe mit anſehn-
lichen Geſchenken. Er ſang einen aͤußerſt ange-
nehmen Tenor, mußte Wilhelminen oft ſtunden-
lang vorſingen, und erndete ihren Beifall im vol-
len Maße.
Ehe noch ein Jahr vergieng, fuͤhlte Wilhel-
mine, daß nicht allein Dankbarkeit, ſondern auch
wahre, aͤchte Liebe ihr Franzens Umgang ſo an-
genehm und nothwendig machten. Der ſeltene
Eifer des Juͤnglings, ſeine unermuͤdete Geduld
im Unterrichte, ſeine edle Seele, ſein gutes red-
liches Herz, das ſich bei jeder Gelegenheit ſo vor-
theilhaft auszeichnete, ſeine ſanfte, melodiſche
Stimme, das allgemeine Lob ſeiner Schoͤnheit,
hatte unbemerkt ihr Herz gefeſſelt, und fieng nun
maͤchtig an, Gegenliebe zu heiſchen. Oft ſprach
ſie mit ihm von ſeiner kuͤnftigen Beſtimmung, und
forſchte dann aͤngſtlich: Ob er ſich ſchon eine
Gattin auserkohren habe? Freudig klopfte ihr
Herz, wenn der gute Juͤngling dieſe Frage im
aufrichtigſten Tone verneinte, aber weh that es
auch dieſem, wenn er den ſanften Haͤndedruck,
den er zum Lohne fuͤr dieſe Nachricht erhielt,
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