Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
Sinne, und macht ihn endlich zum Verführer und Räuber der Unschuld. So ergiengs auch dem edlen, tugendliebenden Franz, anfangs heischte sein Herz nur Gegenliebe, anfangs war ein geraubter Kuß seine größte Kühnheit, ein frei- williger der höchste Wunsch seiner Seele, als aber Zeit und Gelegenheit ihn des Tages hundertmal zu dieser Kühnheit berechtigten, ihm noch öfterer den höchsten Wunsch gewährten, da ward er bald kühner, da wünschte er bald mehr. Lange kämpften die Liebenden, ein Jahr ver- floß, sie waren oft nahe dem Falle, aber ihr war- nendes Gewissen, ihr edles Gefühl der Tugend durchzitterte ihre glühende Nerven, und stärkte sie zum neuen Kampfe, aber Zeit und Gelegenheit mehrte sich auch täglich, sie saßen Stundenlang in einer einsamen, dunklen Grotte des Gartens, der nahe Wasserfall betäubte Wilhelminens lau- schendes Ohr, die sanfte Dunkelheit umhüllte das furchtsame Auge des Jünglings, sie vergaßen der Zukunft, genossen die Gegenwart. So fällt end- lich die Sturm und Wetter trotzende Eiche, wenn man ihren Standpunkt untergräbt, ihre Wurzeln abhaut, und sie in die Tiefe hinabstürzt, so ver- dorrt die blühende Rosenstaude, wenn Mondenlang sie kein Regen, kein Thau erquickt, immer nur brennende Hitze an ihren Wurzeln nagt. Reue folgte der kühnen That, Schauder und Entsetzen gesellte sich bald zu dieser, als Wilhel- mine die Folgen zu ahnden begann, und Fran-
Sinne, und macht ihn endlich zum Verfuͤhrer und Raͤuber der Unſchuld. So ergiengs auch dem edlen, tugendliebenden Franz, anfangs heiſchte ſein Herz nur Gegenliebe, anfangs war ein geraubter Kuß ſeine groͤßte Kuͤhnheit, ein frei- williger der hoͤchſte Wunſch ſeiner Seele, als aber Zeit und Gelegenheit ihn des Tages hundertmal zu dieſer Kuͤhnheit berechtigten, ihm noch oͤfterer den hoͤchſten Wunſch gewaͤhrten, da ward er bald kuͤhner, da wuͤnſchte er bald mehr. Lange kaͤmpften die Liebenden, ein Jahr ver- floß, ſie waren oft nahe dem Falle, aber ihr war- nendes Gewiſſen, ihr edles Gefuͤhl der Tugend durchzitterte ihre gluͤhende Nerven, und ſtaͤrkte ſie zum neuen Kampfe, aber Zeit und Gelegenheit mehrte ſich auch taͤglich, ſie ſaßen Stundenlang in einer einſamen, dunklen Grotte des Gartens, der nahe Waſſerfall betaͤubte Wilhelminens lau- ſchendes Ohr, die ſanfte Dunkelheit umhuͤllte das furchtſame Auge des Juͤnglings, ſie vergaßen der Zukunft, genoſſen die Gegenwart. So faͤllt end- lich die Sturm und Wetter trotzende Eiche, wenn man ihren Standpunkt untergraͤbt, ihre Wurzeln abhaut, und ſie in die Tiefe hinabſtuͤrzt, ſo ver- dorrt die bluͤhende Roſenſtaude, wenn Mondenlang ſie kein Regen, kein Thau erquickt, immer nur brennende Hitze an ihren Wurzeln nagt. Reue folgte der kuͤhnen That, Schauder und Entſetzen geſellte ſich bald zu dieſer, als Wilhel- mine die Folgen zu ahnden begann, und Fran- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#WILH"> <p><pb facs="#f0085" n="77"/> Sinne, und macht ihn endlich zum Verfuͤhrer<lb/> und Raͤuber der Unſchuld. So ergiengs auch<lb/> dem edlen, tugendliebenden Franz, anfangs<lb/> heiſchte ſein Herz nur Gegenliebe, anfangs war<lb/> ein geraubter Kuß ſeine groͤßte Kuͤhnheit, ein frei-<lb/> williger der hoͤchſte Wunſch ſeiner Seele, als aber<lb/> Zeit und Gelegenheit ihn des Tages hundertmal<lb/> zu dieſer Kuͤhnheit berechtigten, ihm noch oͤfterer<lb/> den hoͤchſten Wunſch gewaͤhrten, da ward er bald<lb/> kuͤhner, da wuͤnſchte er bald mehr.</p><lb/> <p>Lange kaͤmpften die Liebenden, ein Jahr ver-<lb/> floß, ſie waren oft nahe dem Falle, aber ihr war-<lb/> nendes Gewiſſen, ihr edles Gefuͤhl der Tugend<lb/> durchzitterte ihre gluͤhende Nerven, und ſtaͤrkte ſie<lb/> zum neuen Kampfe, aber Zeit und Gelegenheit<lb/> mehrte ſich auch taͤglich, ſie ſaßen Stundenlang<lb/> in einer einſamen, dunklen Grotte des Gartens,<lb/> der nahe Waſſerfall betaͤubte Wilhelminens lau-<lb/> ſchendes Ohr, die ſanfte Dunkelheit umhuͤllte das<lb/> furchtſame Auge des Juͤnglings, ſie vergaßen der<lb/> Zukunft, genoſſen die Gegenwart. So faͤllt end-<lb/> lich die Sturm und Wetter trotzende Eiche, wenn<lb/> man ihren Standpunkt untergraͤbt, ihre Wurzeln<lb/> abhaut, und ſie in die Tiefe hinabſtuͤrzt, ſo ver-<lb/> dorrt die bluͤhende Roſenſtaude, wenn Mondenlang<lb/> ſie kein Regen, kein Thau erquickt, immer nur<lb/> brennende Hitze an ihren Wurzeln nagt.</p><lb/> <p>Reue folgte der kuͤhnen That, Schauder und<lb/> Entſetzen geſellte ſich bald zu dieſer, als Wilhel-<lb/> mine die Folgen zu ahnden begann, und Fran-<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [77/0085]
Sinne, und macht ihn endlich zum Verfuͤhrer
und Raͤuber der Unſchuld. So ergiengs auch
dem edlen, tugendliebenden Franz, anfangs
heiſchte ſein Herz nur Gegenliebe, anfangs war
ein geraubter Kuß ſeine groͤßte Kuͤhnheit, ein frei-
williger der hoͤchſte Wunſch ſeiner Seele, als aber
Zeit und Gelegenheit ihn des Tages hundertmal
zu dieſer Kuͤhnheit berechtigten, ihm noch oͤfterer
den hoͤchſten Wunſch gewaͤhrten, da ward er bald
kuͤhner, da wuͤnſchte er bald mehr.
Lange kaͤmpften die Liebenden, ein Jahr ver-
floß, ſie waren oft nahe dem Falle, aber ihr war-
nendes Gewiſſen, ihr edles Gefuͤhl der Tugend
durchzitterte ihre gluͤhende Nerven, und ſtaͤrkte ſie
zum neuen Kampfe, aber Zeit und Gelegenheit
mehrte ſich auch taͤglich, ſie ſaßen Stundenlang
in einer einſamen, dunklen Grotte des Gartens,
der nahe Waſſerfall betaͤubte Wilhelminens lau-
ſchendes Ohr, die ſanfte Dunkelheit umhuͤllte das
furchtſame Auge des Juͤnglings, ſie vergaßen der
Zukunft, genoſſen die Gegenwart. So faͤllt end-
lich die Sturm und Wetter trotzende Eiche, wenn
man ihren Standpunkt untergraͤbt, ihre Wurzeln
abhaut, und ſie in die Tiefe hinabſtuͤrzt, ſo ver-
dorrt die bluͤhende Roſenſtaude, wenn Mondenlang
ſie kein Regen, kein Thau erquickt, immer nur
brennende Hitze an ihren Wurzeln nagt.
Reue folgte der kuͤhnen That, Schauder und
Entſetzen geſellte ſich bald zu dieſer, als Wilhel-
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