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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

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zens forschendes Auge ihre Vermuthung bestätigen
mußte. Längst hatte sie im Uebermaß der Liebe
ihrem Franz geschworen, daß sie nach dem Tode
des Vaters all ihr Erbe verkaufen, dann mit ihm
nach einem fremden Lande ziehen, und dort ewig
in seinen Armen als Gattin leben wolle, jetzt
vernichtete die nahende Schande diese glückliche
Aussicht, drohte ihr mit des Vaters Fluche, mit
gerechter Enterbung und wahrscheinlicher Trennung
von ihrem Allgeliebten. Sie liebte ihren Vater
zärtlich und innig, sie flehte früh und Abends zu
Gott für sein Wohl, aber jetzt mischte sich oft der
schreckliche Wunsch in ihr Gebet, daß Gott sein
Leiden bald und früher enden möge, ehe es ihm
bekannt würde, daß sein einziges Kind sein An-
denken mit Schande beflecken werde. O es ist
wahr, aber auch schrecklich, daß ein einziger Fehl-
tritt das beste Herz vergiften, es zu Wünschen,
oft auch zu Thaten fähig machen kann, welche
die Menschheit entehren und Schauder erregen.
Nichts fürchtet das Herz eines Mädchens mehr
als Schande, als Verletzung seines Rufs und
Spott seiner Freunde, daher kommts, daß dieß
holde, sanfte Geschöpf so oft zu größern Verbre-
chen seine Zuflucht nimmt, so oft das Kind seines
Herzens mordet, daher kams, daß die gute Wil-
helmine den Tod ihres Vaters zu wünschen fähig
war.

Aber, der Gerechte hörte diesen schrecklichen
Wunsch nicht, es besserte sich vielmehr täglich mit
zens forſchendes Auge ihre Vermuthung beſtaͤtigen
mußte. Laͤngſt hatte ſie im Uebermaß der Liebe
ihrem Franz geſchworen, daß ſie nach dem Tode
des Vaters all ihr Erbe verkaufen, dann mit ihm
nach einem fremden Lande ziehen, und dort ewig
in ſeinen Armen als Gattin leben wolle, jetzt
vernichtete die nahende Schande dieſe gluͤckliche
Ausſicht, drohte ihr mit des Vaters Fluche, mit
gerechter Enterbung und wahrſcheinlicher Trennung
von ihrem Allgeliebten. Sie liebte ihren Vater
zaͤrtlich und innig, ſie flehte fruͤh und Abends zu
Gott fuͤr ſein Wohl, aber jetzt miſchte ſich oft der
ſchreckliche Wunſch in ihr Gebet, daß Gott ſein
Leiden bald und fruͤher enden moͤge, ehe es ihm
bekannt wuͤrde, daß ſein einziges Kind ſein An-
denken mit Schande beflecken werde. O es iſt
wahr, aber auch ſchrecklich, daß ein einziger Fehl-
tritt das beſte Herz vergiften, es zu Wuͤnſchen,
oft auch zu Thaten faͤhig machen kann, welche
die Menſchheit entehren und Schauder erregen.
Nichts fuͤrchtet das Herz eines Maͤdchens mehr
als Schande, als Verletzung ſeines Rufs und
Spott ſeiner Freunde, daher kommts, daß dieß
holde, ſanfte Geſchoͤpf ſo oft zu groͤßern Verbre-
chen ſeine Zuflucht nimmt, ſo oft das Kind ſeines
Herzens mordet, daher kams, daß die gute Wil-
helmine den Tod ihres Vaters zu wuͤnſchen faͤhig
war.

Aber, der Gerechte hoͤrte dieſen ſchrecklichen
Wunſch nicht, es beſſerte ſich vielmehr taͤglich mit
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[78/0086] zens forſchendes Auge ihre Vermuthung beſtaͤtigen mußte. Laͤngſt hatte ſie im Uebermaß der Liebe ihrem Franz geſchworen, daß ſie nach dem Tode des Vaters all ihr Erbe verkaufen, dann mit ihm nach einem fremden Lande ziehen, und dort ewig in ſeinen Armen als Gattin leben wolle, jetzt vernichtete die nahende Schande dieſe gluͤckliche Ausſicht, drohte ihr mit des Vaters Fluche, mit gerechter Enterbung und wahrſcheinlicher Trennung von ihrem Allgeliebten. Sie liebte ihren Vater zaͤrtlich und innig, ſie flehte fruͤh und Abends zu Gott fuͤr ſein Wohl, aber jetzt miſchte ſich oft der ſchreckliche Wunſch in ihr Gebet, daß Gott ſein Leiden bald und fruͤher enden moͤge, ehe es ihm bekannt wuͤrde, daß ſein einziges Kind ſein An- denken mit Schande beflecken werde. O es iſt wahr, aber auch ſchrecklich, daß ein einziger Fehl- tritt das beſte Herz vergiften, es zu Wuͤnſchen, oft auch zu Thaten faͤhig machen kann, welche die Menſchheit entehren und Schauder erregen. Nichts fuͤrchtet das Herz eines Maͤdchens mehr als Schande, als Verletzung ſeines Rufs und Spott ſeiner Freunde, daher kommts, daß dieß holde, ſanfte Geſchoͤpf ſo oft zu groͤßern Verbre- chen ſeine Zuflucht nimmt, ſo oft das Kind ſeines Herzens mordet, daher kams, daß die gute Wil- helmine den Tod ihres Vaters zu wuͤnſchen faͤhig war. Aber, der Gerechte hoͤrte dieſen ſchrecklichen Wunſch nicht, es beſſerte ſich vielmehr taͤglich mit

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Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/86>, abgerufen am 22.11.2024.