Daß Vorwürfe dieser Art die unempfind- liche Stiefmutter noch mehr zum Zorne reiz- ten, kann man sich leicht vorstellen, ihre Begierde nach Rache suchte Nahrung, und fand sie darinn, wenn sie jedes geringe Ver- brechen der kleinen Marie mit unnachsichtli- cher Strenge bestrafen konnte. Diese duldete im Stillen, weinte freilich oft ingeheim auf ihrer Mutter Grab, besaß aber doch Muth und Stärke genug, die barbarische Behand- lung ihrer Stiefmutter zu ertragen. Sie fand in der Folge, daß Schmeichelei der lez- tern Zorn stillen könne, und mühte sich an- haltend, ihr diese reichlich zu zollen; da- durch gewann sie endlich das Herz der Uned- len, ward besser von ihr behandelt, und versicherte dem heimkehrenden Vater, daß es ihr auch in seiner Abwesenheit wohl ergehe.
Der erfreute Vater suchte sich nun wie- der mit seiner Gattin zu versöhnen, aber
Daß Vorwuͤrfe dieſer Art die unempfind- liche Stiefmutter noch mehr zum Zorne reiz- ten, kann man ſich leicht vorſtellen, ihre Begierde nach Rache ſuchte Nahrung, und fand ſie darinn, wenn ſie jedes geringe Ver- brechen der kleinen Marie mit unnachſichtli- cher Strenge beſtrafen konnte. Dieſe duldete im Stillen, weinte freilich oft ingeheim auf ihrer Mutter Grab, beſaß aber doch Muth und Staͤrke genug, die barbariſche Behand- lung ihrer Stiefmutter zu ertragen. Sie fand in der Folge, daß Schmeichelei der lez- tern Zorn ſtillen koͤnne, und muͤhte ſich an- haltend, ihr dieſe reichlich zu zollen; da- durch gewann ſie endlich das Herz der Uned- len, ward beſſer von ihr behandelt, und verſicherte dem heimkehrenden Vater, daß es ihr auch in ſeiner Abweſenheit wohl ergehe.
Der erfreute Vater ſuchte ſich nun wie- der mit ſeiner Gattin zu verſoͤhnen, aber
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Daß Vorwuͤrfe dieſer Art die unempfind-
liche Stiefmutter noch mehr zum Zorne reiz-
ten, kann man ſich leicht vorſtellen, ihre
Begierde nach Rache ſuchte Nahrung, und
fand ſie darinn, wenn ſie jedes geringe Ver-
brechen der kleinen Marie mit unnachſichtli-
cher Strenge beſtrafen konnte. Dieſe duldete
im Stillen, weinte freilich oft ingeheim auf
ihrer Mutter Grab, beſaß aber doch Muth
und Staͤrke genug, die barbariſche Behand-
lung ihrer Stiefmutter zu ertragen. Sie
fand in der Folge, daß Schmeichelei der lez-
tern Zorn ſtillen koͤnne, und muͤhte ſich an-
haltend, ihr dieſe reichlich zu zollen; da-
durch gewann ſie endlich das Herz der Uned-
len, ward beſſer von ihr behandelt, und
verſicherte dem heimkehrenden Vater, daß es
ihr auch in ſeiner Abweſenheit wohl ergehe.
Der erfreute Vater ſuchte ſich nun wie-
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/201>, abgerufen am 29.11.2024.
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