Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

das Rad ihrer Einbildungskraft stockte, die im-
mer thätige Seele konnte es nicht drehen,
nicht wenden. Undank und Grausamkeit hatten
sie tödlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte
jede Nerve, durchzitterte jede Faser des ver-
laßnen Mädchens. Mit jedem Tropfen Blu-
tes rollte der zentnerschwere Gedanke langsam
durch ihre Adern, und strömte wieder hastig
nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu
suchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken,
sie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne
es verlassen zu wollen, sie irrte in den Gassen
der Stadt umher, ohne zu wissen, wohin sie
gehen wolle.

Am Abende fand sie die suchende Mutter
in einem Garten der entlegensten Vorstadt, sie
saß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete
ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein
kleines Mädchen, welches sie hinauf klettern
sah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter

das Rad ihrer Einbildungskraft ſtockte, die im-
mer thaͤtige Seele konnte es nicht drehen,
nicht wenden. Undank und Grauſamkeit hatten
ſie toͤdlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte
jede Nerve, durchzitterte jede Faſer des ver-
laßnen Maͤdchens. Mit jedem Tropfen Blu-
tes rollte der zentnerſchwere Gedanke langſam
durch ihre Adern, und ſtroͤmte wieder haſtig
nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu
ſuchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken,
ſie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne
es verlaſſen zu wollen, ſie irrte in den Gaſſen
der Stadt umher, ohne zu wiſſen, wohin ſie
gehen wolle.

Am Abende fand ſie die ſuchende Mutter
in einem Garten der entlegenſten Vorſtadt, ſie
ſaß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete
ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein
kleines Maͤdchen, welches ſie hinauf klettern
ſah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0060" n="50"/>
das Rad ihrer <choice><sic>Einbildnngskraft</sic><corr>Einbildungskraft</corr></choice> &#x017F;tockte, die im-<lb/>
mer tha&#x0364;tige Seele konnte es nicht drehen,<lb/>
nicht wenden. Undank und Grau&#x017F;amkeit hatten<lb/>
&#x017F;ie to&#x0364;dlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte<lb/>
jede Nerve, durchzitterte jede Fa&#x017F;er des ver-<lb/>
laßnen Ma&#x0364;dchens. Mit jedem Tropfen Blu-<lb/>
tes rollte der zentner&#x017F;chwere Gedanke lang&#x017F;am<lb/>
durch ihre Adern, und &#x017F;tro&#x0364;mte wieder ha&#x017F;tig<lb/>
nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu<lb/>
&#x017F;uchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken,<lb/>
&#x017F;ie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne<lb/>
es verla&#x017F;&#x017F;en zu wollen, &#x017F;ie irrte in den Ga&#x017F;&#x017F;en<lb/>
der Stadt umher, ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en, wohin &#x017F;ie<lb/>
gehen wolle.</p><lb/>
        <p>Am Abende fand &#x017F;ie die &#x017F;uchende Mutter<lb/>
in einem Garten der entlegen&#x017F;ten Vor&#x017F;tadt, &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;aß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete<lb/>
ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein<lb/>
kleines Ma&#x0364;dchen, welches &#x017F;ie hinauf klettern<lb/>
&#x017F;ah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0060] das Rad ihrer Einbildungskraft ſtockte, die im- mer thaͤtige Seele konnte es nicht drehen, nicht wenden. Undank und Grauſamkeit hatten ſie toͤdlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte jede Nerve, durchzitterte jede Faſer des ver- laßnen Maͤdchens. Mit jedem Tropfen Blu- tes rollte der zentnerſchwere Gedanke langſam durch ihre Adern, und ſtroͤmte wieder haſtig nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu ſuchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken, ſie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne es verlaſſen zu wollen, ſie irrte in den Gaſſen der Stadt umher, ohne zu wiſſen, wohin ſie gehen wolle. Am Abende fand ſie die ſuchende Mutter in einem Garten der entlegenſten Vorſtadt, ſie ſaß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein kleines Maͤdchen, welches ſie hinauf klettern ſah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/60
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/60>, abgerufen am 21.11.2024.