und nieder, und versuchte stets durch tiefe Seufzer, die drückende Last ihres Herzens zu lösen. Schon am andern Morgen umgür- tete sie ihren Körper mit einem langen Flore, und heftete auf ihre linke Brust, unter der ihr verlaßnes Herz ruhte, einen schwarzen Fleck. Sie zitterte und bebte, sie wüthete und raßte, wenn man ihr diesen Zierrath rauben wollte, sie schüttelte langsam und traurig den Kopf, wenn man sie trösten wollte. Oft entwischte sie der Aufmerksamkeit ihrer Eltern, und eilte ins Freie. Die su- chende Mutter war dann gewiß, daß sie sol- che auf der hohen Linde wiederfinden würde; immer traf sie solche im Gipfel derselben, wo sie mit hocherhabnen Händen zu beten schien.
Wehmuth füllt mein Herz, theilnehmen- de Thränen treten in mein Auge, wenn ich mir das Leiden der Unglücklichen denke, wenn ich der Ursache nachforsche: Warum sie eben
und nieder, und verſuchte ſtets durch tiefe Seufzer, die druͤckende Laſt ihres Herzens zu loͤſen. Schon am andern Morgen umguͤr- tete ſie ihren Koͤrper mit einem langen Flore, und heftete auf ihre linke Bruſt, unter der ihr verlaßnes Herz ruhte, einen ſchwarzen Fleck. Sie zitterte und bebte, ſie wuͤthete und raßte, wenn man ihr dieſen Zierrath rauben wollte, ſie ſchuͤttelte langſam und traurig den Kopf, wenn man ſie troͤſten wollte. Oft entwiſchte ſie der Aufmerkſamkeit ihrer Eltern, und eilte ins Freie. Die ſu- chende Mutter war dann gewiß, daß ſie ſol- che auf der hohen Linde wiederfinden wuͤrde; immer traf ſie ſolche im Gipfel derſelben, wo ſie mit hocherhabnen Haͤnden zu beten ſchien.
Wehmuth fuͤllt mein Herz, theilnehmen- de Thraͤnen treten in mein Auge, wenn ich mir das Leiden der Ungluͤcklichen denke, wenn ich der Urſache nachforſche: Warum ſie eben
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und nieder, und verſuchte ſtets durch tiefe
Seufzer, die druͤckende Laſt ihres Herzens
zu loͤſen. Schon am andern Morgen umguͤr-
tete ſie ihren Koͤrper mit einem langen Flore,
und heftete auf ihre linke Bruſt, unter der
ihr verlaßnes Herz ruhte, einen ſchwarzen
Fleck. Sie zitterte und bebte, ſie wuͤthete
und raßte, wenn man ihr dieſen Zierrath
rauben wollte, ſie ſchuͤttelte langſam und
traurig den Kopf, wenn man ſie troͤſten
wollte. Oft entwiſchte ſie der Aufmerkſamkeit
ihrer Eltern, und eilte ins Freie. Die ſu-
chende Mutter war dann gewiß, daß ſie ſol-
che auf der hohen Linde wiederfinden wuͤrde;
immer traf ſie ſolche im Gipfel derſelben, wo
ſie mit hocherhabnen Haͤnden zu beten ſchien.
Wehmuth fuͤllt mein Herz, theilnehmen-
de Thraͤnen treten in mein Auge, wenn ich
mir das Leiden der Ungluͤcklichen denke, wenn
ich der Urſache nachforſche: Warum ſie eben
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/62>, abgerufen am 24.11.2024.
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