die hohe Linde erstieg, und dort so andächtig betete? Wahrscheinlich wollte sie ihren unend- lichen Schmerz, ihren übergroßen Jammer dem Ewigen klagen; wahrscheinlich glaubte sie in ihrem Wahnsinne, daß sie im Gipfel der Linde ihm näher sey, daß er sie in dieser Höhe besser hören würde. Ach, es ist ein schaudernerregendes Bild, wenn der Unglück- liche, der nirgends Hülfe, nirgends Trost auf der weiten, großen Erde findet, einen hohen Baum erklettert, um von seiner Höhe zum Ewigen zu rufen, da er sein Flehen aus der Tiefe nicht zu hören scheint. Es ist ein Beweis des höchsten Dranges, des größten Jammers, des fühlbarsten Schmerzes!
Erst einen Monat später sahen die unglück- lichen Eltern des unglücklichsten Kindes, daß ihr Jammer noch kein Ziel erreiche, daß er sich in der Folge noch um ein großes mehren müsse, sie erkannten deutlich, daß Sophie
die hohe Linde erſtieg, und dort ſo andaͤchtig betete? Wahrſcheinlich wollte ſie ihren unend- lichen Schmerz, ihren uͤbergroßen Jammer dem Ewigen klagen; wahrſcheinlich glaubte ſie in ihrem Wahnſinne, daß ſie im Gipfel der Linde ihm naͤher ſey, daß er ſie in dieſer Hoͤhe beſſer hoͤren wuͤrde. Ach, es iſt ein ſchaudernerregendes Bild, wenn der Ungluͤck- liche, der nirgends Huͤlfe, nirgends Troſt auf der weiten, großen Erde findet, einen hohen Baum erklettert, um von ſeiner Hoͤhe zum Ewigen zu rufen, da er ſein Flehen aus der Tiefe nicht zu hoͤren ſcheint. Es iſt ein Beweis des hoͤchſten Dranges, des groͤßten Jammers, des fuͤhlbarſten Schmerzes!
Erſt einen Monat ſpaͤter ſahen die ungluͤck- lichen Eltern des ungluͤcklichſten Kindes, daß ihr Jammer noch kein Ziel erreiche, daß er ſich in der Folge noch um ein großes mehren muͤſſe, ſie erkannten deutlich, daß Sophie
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die hohe Linde erſtieg, und dort ſo andaͤchtig
betete? Wahrſcheinlich wollte ſie ihren unend-
lichen Schmerz, ihren uͤbergroßen Jammer
dem Ewigen klagen; wahrſcheinlich glaubte
ſie in ihrem Wahnſinne, daß ſie im Gipfel
der Linde ihm naͤher ſey, daß er ſie in dieſer
Hoͤhe beſſer hoͤren wuͤrde. Ach, es iſt ein
ſchaudernerregendes Bild, wenn der Ungluͤck-
liche, der nirgends Huͤlfe, nirgends Troſt
auf der weiten, großen Erde findet, einen
hohen Baum erklettert, um von ſeiner Hoͤhe
zum Ewigen zu rufen, da er ſein Flehen aus
der Tiefe nicht zu hoͤren ſcheint. Es iſt ein
Beweis des hoͤchſten Dranges, des groͤßten
Jammers, des fuͤhlbarſten Schmerzes!
Erſt einen Monat ſpaͤter ſahen die ungluͤck-
lichen Eltern des ungluͤcklichſten Kindes, daß
ihr Jammer noch kein Ziel erreiche, daß er ſich
in der Folge noch um ein großes mehren
muͤſſe, ſie erkannten deutlich, daß Sophie
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/63>, abgerufen am 16.02.2025.
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