wie sehr auch das Kind drehte und zog und von unten suchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es Kraft hätte, sie aufzudrücken; es blieb Alles eisen¬ fest aufeinander sitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einsah, daß alle Anstrengungen Nichts halfen, gab es seinen Plan auf und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Gras¬ boden käme, denn es erinnerte sich, daß es gestern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an seiner Thür und unmittelbar darauf steckte Tinette den Kopf herein und sagte kurz: "Frühstück be¬ reit."
Heidi verstand keineswegs eine Einladung unter diesen Worten; auf dem spöttischen Gesicht der Tinette stand viel mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geschrieben, und das las Heidi deut¬ lich von dem Gesicht und richtete sich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tisch hervor, stellte ihn in eine Ecke, setzte sich darauf und wartete so ganz still ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam Etwas mit ziemlichem Geräusch, es war Fräulein Rottenmeier, die schon wieder in Aufregung gerathen war und in Heidi's Stube hineinrief: "Was ist mit dir, Adelheid? Begreifst du nicht, was ein Frühstück ist? Komm' herüber!"
Das verstand nun Heidi und folgte sogleich nach. Im Eßzimmer saß Klara schon lang an ihrem Platz und be¬
wie ſehr auch das Kind drehte und zog und von unten ſuchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben, damit es Kraft hätte, ſie aufzudrücken; es blieb Alles eiſen¬ feſt aufeinander ſitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einſah, daß alle Anſtrengungen Nichts halfen, gab es ſeinen Plan auf und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Gras¬ boden käme, denn es erinnerte ſich, daß es geſtern Abend vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt klopfte es an ſeiner Thür und unmittelbar darauf ſteckte Tinette den Kopf herein und ſagte kurz: „Frühſtück be¬ reit.“
Heidi verſtand keineswegs eine Einladung unter dieſen Worten; auf dem ſpöttiſchen Geſicht der Tinette ſtand viel mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine freundliche Einladung geſchrieben, und das las Heidi deut¬ lich von dem Geſicht und richtete ſich danach. Es nahm den kleinen Schemel unter dem Tiſch hervor, ſtellte ihn in eine Ecke, ſetzte ſich darauf und wartete ſo ganz ſtill ab, was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam Etwas mit ziemlichem Geräuſch, es war Fräulein Rottenmeier, die ſchon wieder in Aufregung gerathen war und in Heidi's Stube hineinrief: „Was iſt mit dir, Adelheid? Begreifſt du nicht, was ein Frühſtück iſt? Komm' herüber!“
Das verſtand nun Heidi und folgte ſogleich nach. Im Eßzimmer ſaß Klara ſchon lang an ihrem Platz und be¬
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wie ſehr auch das Kind drehte und zog und von unten
ſuchte, die kleinen Finger unter die Rahmen einzutreiben,
damit es Kraft hätte, ſie aufzudrücken; es blieb Alles eiſen¬
feſt aufeinander ſitzen. Nach langer Zeit, als Heidi einſah,
daß alle Anſtrengungen Nichts halfen, gab es ſeinen Plan
auf und überdachte nun, wie es wäre, wenn es vor das
Haus hinausginge und hintenherum, bis es auf den Gras¬
boden käme, denn es erinnerte ſich, daß es geſtern Abend
vorn am Haus nur über Steine gekommen war. Jetzt
klopfte es an ſeiner Thür und unmittelbar darauf ſteckte
Tinette den Kopf herein und ſagte kurz: „Frühſtück be¬
reit.“
Heidi verſtand keineswegs eine Einladung unter dieſen
Worten; auf dem ſpöttiſchen Geſicht der Tinette ſtand viel
mehr eine Warnung, ihr nicht zu nah zu kommen, als eine
freundliche Einladung geſchrieben, und das las Heidi deut¬
lich von dem Geſicht und richtete ſich danach. Es nahm
den kleinen Schemel unter dem Tiſch hervor, ſtellte ihn in
eine Ecke, ſetzte ſich darauf und wartete ſo ganz ſtill ab,
was nun kommen würde. Nach einiger Zeit kam Etwas
mit ziemlichem Geräuſch, es war Fräulein Rottenmeier, die
ſchon wieder in Aufregung gerathen war und in Heidi's
Stube hineinrief: „Was iſt mit dir, Adelheid? Begreifſt
du nicht, was ein Frühſtück iſt? Komm' herüber!“
Das verſtand nun Heidi und folgte ſogleich nach. Im
Eßzimmer ſaß Klara ſchon lang an ihrem Platz und be¬
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/114>, abgerufen am 29.06.2024.
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