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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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erschrecklich sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig
Herr Sesemann.

"Sie sollten nur Eines wissen, Herr Sesemann, nur
das Eine, mit was für Menschen und Thieren dieses Wesen
Ihr Haus in Ihrer Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte
der Herr Candidat erzählen."

"Mit Thieren? Wie muß ich das verstehen, Fräulein
Rottenmeier?"

"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung
dieses Wesens wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem
Einen Punkte, daß es Anfälle von völliger Verstandes¬
gestörtheit hat."

Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für
wichtig gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? eine solche
konnte ja für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben.
Herr Sesemann schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau
an, so als wollte er sich erst versichern, ob nicht etwa bei
ihr eine derartige Störung zu bemerken sei. In diesem
Augenblick wurde die Thüre aufgethan und der Herr Can¬
didat angemeldet.

"Ach da kommt unser Herr Candidat, der wird uns
Aufschluß geben", rief ihm Herr Sesemann entgegen.
"Kommen Sie, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir!"
Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand ent¬
gegen. "Der Herr Candidat trinkt eine Tasse schwarzen
Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich,

erſchrecklich ſieht mir das Kind nicht aus“, bemerkte ruhig
Herr Seſemann.

„Sie ſollten nur Eines wiſſen, Herr Seſemann, nur
das Eine, mit was für Menſchen und Thieren dieſes Weſen
Ihr Haus in Ihrer Abweſenheit bevölkert hat; davon könnte
der Herr Candidat erzählen.“

„Mit Thieren? Wie muß ich das verſtehen, Fräulein
Rottenmeier?“

„Es iſt eben nicht zu verſtehen; die ganze Aufführung
dieſes Weſens wäre nicht zu verſtehen, wenn nicht aus dem
Einen Punkte, daß es Anfälle von völliger Verſtandes¬
geſtörtheit hat.“

Bis hierher hatte Herr Seſemann die Sache nicht für
wichtig gehalten; aber Geſtörtheit des Verſtandes? eine ſolche
konnte ja für ſeine Tochter die bedenklichſten Folgen haben.
Herr Seſemann ſchaute Fräulein Rottenmeier ſehr genau
an, ſo als wollte er ſich erſt verſichern, ob nicht etwa bei
ihr eine derartige Störung zu bemerken ſei. In dieſem
Augenblick wurde die Thüre aufgethan und der Herr Can¬
didat angemeldet.

„Ach da kommt unſer Herr Candidat, der wird uns
Aufſchluß geben“, rief ihm Herr Seſemann entgegen.
„Kommen Sie, kommen Sie, ſetzen Sie ſich zu mir!“
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[143/0153] erſchrecklich ſieht mir das Kind nicht aus“, bemerkte ruhig Herr Seſemann. „Sie ſollten nur Eines wiſſen, Herr Seſemann, nur das Eine, mit was für Menſchen und Thieren dieſes Weſen Ihr Haus in Ihrer Abweſenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Candidat erzählen.“ „Mit Thieren? Wie muß ich das verſtehen, Fräulein Rottenmeier?“ „Es iſt eben nicht zu verſtehen; die ganze Aufführung dieſes Weſens wäre nicht zu verſtehen, wenn nicht aus dem Einen Punkte, daß es Anfälle von völliger Verſtandes¬ geſtörtheit hat.“ Bis hierher hatte Herr Seſemann die Sache nicht für wichtig gehalten; aber Geſtörtheit des Verſtandes? eine ſolche konnte ja für ſeine Tochter die bedenklichſten Folgen haben. Herr Seſemann ſchaute Fräulein Rottenmeier ſehr genau an, ſo als wollte er ſich erſt verſichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu bemerken ſei. In dieſem Augenblick wurde die Thüre aufgethan und der Herr Can¬ didat angemeldet. „Ach da kommt unſer Herr Candidat, der wird uns Aufſchluß geben“, rief ihm Herr Seſemann entgegen. „Kommen Sie, kommen Sie, ſetzen Sie ſich zu mir!“ Herr Seſemann ſtreckte dem Eintretenden die Hand ent¬ gegen. „Der Herr Candidat trinkt eine Taſſe ſchwarzen Kaffee mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie ſich,

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/153>, abgerufen am 27.11.2024.