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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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setzen Sie sich, keine Complimente! Und nun sagen Sie
mir, Herr Candidat, was ist mit dem Kinde, das als Ge¬
spielin meiner Tochter in's Haus gekommen ist und das
Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtniß mit
den Thieren, die es in's Haus gebracht und wie steht es
mit seinem Verstand?"

Der Herr Candidat mußte erst seine Freude über Herrn
Sesemann's glückliche Rückkehr aussprechen und ihn will¬
kommen heißen, weßwegen er ja gekommen war; aber Herr
Sesemann drängte ihn, daß er ihm Aufschluß gebe über
die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Can¬
didat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen
Mädchens aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich
vor Allem darauf aufmerksam machen, daß, wenn auch auf
der einen Seite sich ein Mangel der Entwicklung, welcher
durch eine mehr oder weniger vernachlässigte Erziehung,
oder besser gesagt, etwas verspäteten Unterricht verur¬
sacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus
nicht in jeder Beziehung zu verurtheilende, im Gegentheil
ihre guten Seiten unstreitig darthuende Abgeschiedenheit
eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht
eine gewisse Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute
Seite --"

"Mein lieber Herr Candidat", unterbrach hier Herr
Sesemann, "Sie geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen
Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken bei¬

ſetzen Sie ſich, keine Complimente! Und nun ſagen Sie
mir, Herr Candidat, was iſt mit dem Kinde, das als Ge¬
ſpielin meiner Tochter in's Haus gekommen iſt und das
Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtniß mit
den Thieren, die es in's Haus gebracht und wie ſteht es
mit ſeinem Verſtand?“

Der Herr Candidat mußte erſt ſeine Freude über Herrn
Seſemann's glückliche Rückkehr ausſprechen und ihn will¬
kommen heißen, weßwegen er ja gekommen war; aber Herr
Seſemann drängte ihn, daß er ihm Aufſchluß gebe über
die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Can¬
didat: „Wenn ich mich über das Weſen dieſes jungen
Mädchens ausſprechen ſoll, Herr Seſemann, ſo möchte ich
vor Allem darauf aufmerkſam machen, daß, wenn auch auf
der einen Seite ſich ein Mangel der Entwicklung, welcher
durch eine mehr oder weniger vernachläſſigte Erziehung,
oder beſſer geſagt, etwas verſpäteten Unterricht verur¬
ſacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus
nicht in jeder Beziehung zu verurtheilende, im Gegentheil
ihre guten Seiten unſtreitig darthuende Abgeſchiedenheit
eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht
eine gewiſſe Dauer überſchreitet, ja ohne Zweifel ſeine gute
Seite —“

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Seſemann, „Sie geben ſich wirklich zu viel Mühe; ſagen
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[144/0154] ſetzen Sie ſich, keine Complimente! Und nun ſagen Sie mir, Herr Candidat, was iſt mit dem Kinde, das als Ge¬ ſpielin meiner Tochter in's Haus gekommen iſt und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtniß mit den Thieren, die es in's Haus gebracht und wie ſteht es mit ſeinem Verſtand?“ Der Herr Candidat mußte erſt ſeine Freude über Herrn Seſemann's glückliche Rückkehr ausſprechen und ihn will¬ kommen heißen, weßwegen er ja gekommen war; aber Herr Seſemann drängte ihn, daß er ihm Aufſchluß gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der Herr Can¬ didat: „Wenn ich mich über das Weſen dieſes jungen Mädchens ausſprechen ſoll, Herr Seſemann, ſo möchte ich vor Allem darauf aufmerkſam machen, daß, wenn auch auf der einen Seite ſich ein Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger vernachläſſigte Erziehung, oder beſſer geſagt, etwas verſpäteten Unterricht verur¬ ſacht und durch die mehr oder weniger, jedoch durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurtheilende, im Gegentheil ihre guten Seiten unſtreitig darthuende Abgeſchiedenheit eines längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewiſſe Dauer überſchreitet, ja ohne Zweifel ſeine gute Seite —“ „Mein lieber Herr Candidat“, unterbrach hier Herr Seſemann, „Sie geben ſich wirklich zu viel Mühe; ſagen Sie mir, hat auch Ihnen das Kind einen Schrecken bei¬

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/154>, abgerufen am 23.11.2024.