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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Unter¬
gehen.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm',
komm', Kind", sagte sie in freundlichster Weise, "nicht
weinen, nicht weinen." Das hat dich wohl an Etwas er¬
innert; aber sieh', da ist auch eine schöne Geschichte dazu,
die erzähl' ich heut' Abend. Und da sind noch so viele schöne
Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
wiedererzählen. Komm', nun müssen wir Etwas besprechen
zusammen, trockne schön deine Thränen, so, und nun stell'
dich hier vor mich hin, daß ich dich recht ansehen kann; so
ist's recht, nun sind wir wieder fröhlich."

Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen
aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute
Weile zur Erholung, nur sagte sie von Zeit zu Zeit er¬
munternd: "So, nun ist's gut, nun sind wir wieder froh
zusammen."

Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun
mußt du mir 'was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim
Herrn Candidaten in den Unterrichtsstunden, lernst du auch
gut und kannst du 'was?

"O nein", antwortete Heidi seufzend, "aber ich wußte
schon, daß man es nicht lernen kann."

"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst
du?"

"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."

denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Unter¬
gehen.

Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. „Komm',
komm', Kind“, ſagte ſie in freundlichſter Weiſe, „nicht
weinen, nicht weinen.“ Das hat dich wohl an Etwas er¬
innert; aber ſieh', da iſt auch eine ſchöne Geſchichte dazu,
die erzähl' ich heut' Abend. Und da ſind noch ſo viele ſchöne
Geſchichten in dem Buch, die kann man alle leſen und
wiedererzählen. Komm', nun müſſen wir Etwas beſprechen
zuſammen, trockne ſchön deine Thränen, ſo, und nun ſtell'
dich hier vor mich hin, daß ich dich recht anſehen kann; ſo
iſt's recht, nun ſind wir wieder fröhlich.“

Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu ſchluchzen
aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute
Weile zur Erholung, nur ſagte ſie von Zeit zu Zeit er¬
munternd: „So, nun iſt's gut, nun ſind wir wieder froh
zuſammen.“

Als ſie endlich das Kind beruhigt ſah, ſagte ſie: „Nun
mußt du mir 'was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim
Herrn Candidaten in den Unterrichtsſtunden, lernſt du auch
gut und kannſt du 'was?

„O nein“, antwortete Heidi ſeufzend, „aber ich wußte
ſchon, daß man es nicht lernen kann.“

„Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinſt
du?“

„Leſen kann man nicht lernen, es iſt zu ſchwer.“

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[156/0166] denn hinten am Horizont war eben die Sonne im Unter¬ gehen. Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. „Komm', komm', Kind“, ſagte ſie in freundlichſter Weiſe, „nicht weinen, nicht weinen.“ Das hat dich wohl an Etwas er¬ innert; aber ſieh', da iſt auch eine ſchöne Geſchichte dazu, die erzähl' ich heut' Abend. Und da ſind noch ſo viele ſchöne Geſchichten in dem Buch, die kann man alle leſen und wiedererzählen. Komm', nun müſſen wir Etwas beſprechen zuſammen, trockne ſchön deine Thränen, ſo, und nun ſtell' dich hier vor mich hin, daß ich dich recht anſehen kann; ſo iſt's recht, nun ſind wir wieder fröhlich.“ Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu ſchluchzen aufhören konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung, nur ſagte ſie von Zeit zu Zeit er¬ munternd: „So, nun iſt's gut, nun ſind wir wieder froh zuſammen.“ Als ſie endlich das Kind beruhigt ſah, ſagte ſie: „Nun mußt du mir 'was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Candidaten in den Unterrichtsſtunden, lernſt du auch gut und kannſt du 'was? „O nein“, antwortete Heidi ſeufzend, „aber ich wußte ſchon, daß man es nicht lernen kann.“ „Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinſt du?“ „Leſen kann man nicht lernen, es iſt zu ſchwer.“

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/166>, abgerufen am 27.11.2024.