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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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in Ordnung, nun sag' mir auch noch, wo wolltest du denn
hin?"

"Ich wollte gewiß nirgends hin", versicherte Heidi, "ich
bin auch gar nicht selbst hinuntergegangen, ich war nur auf
einmal da."

"So, so, und hast du etwa geträumt in der Nacht,
weißt du, so, daß du deutlich Etwas sahst und hörtest?"

"Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich.
Dann mein' ich, ich sei beim Großvater und draußen hör'
ich's in den Tannen sausen und denke, jetzt glitzern so schön
die Sterne am Himmel und ich laufe geschwind und mache
die Thür auf an der Hütte und da ist's so schön! Aber
wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt." Heidi
fing schon an zu kämpfen und zu schlucken an dem Gewicht,
das den Hals hinaufstieg.

"Hm, und thut dir denn auch Nichts weh, nirgends?
Nicht im Kopf oder im Rücken?"

"O nein, nur hier drückt es so wie ein großer Stein
immerfort."

"So, etwa so, wie wenn man Etwas gegessen hat und
wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?"

"Nein, so nicht, aber so schwer, wie wenn man stark
weinen sollte."

"So, so, und weinst du denn so recht heraus?"

"O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier
hat es verboten."

in Ordnung, nun ſag' mir auch noch, wo wollteſt du denn
hin?“

„Ich wollte gewiß nirgends hin“, verſicherte Heidi, „ich
bin auch gar nicht ſelbſt hinuntergegangen, ich war nur auf
einmal da.“

„So, ſo, und haſt du etwa geträumt in der Nacht,
weißt du, ſo, daß du deutlich Etwas ſahſt und hörteſt?“

„Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich.
Dann mein' ich, ich ſei beim Großvater und draußen hör'
ich's in den Tannen ſauſen und denke, jetzt glitzern ſo ſchön
die Sterne am Himmel und ich laufe geſchwind und mache
die Thür auf an der Hütte und da iſt's ſo ſchön! Aber
wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.“ Heidi
fing ſchon an zu kämpfen und zu ſchlucken an dem Gewicht,
das den Hals hinaufſtieg.

„Hm, und thut dir denn auch Nichts weh, nirgends?
Nicht im Kopf oder im Rücken?“

„O nein, nur hier drückt es ſo wie ein großer Stein
immerfort.“

„So, etwa ſo, wie wenn man Etwas gegeſſen hat und
wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?“

„Nein, ſo nicht, aber ſo ſchwer, wie wenn man ſtark
weinen ſollte.“

„So, ſo, und weinſt du denn ſo recht heraus?“

„O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier
hat es verboten.“

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[189/0199] in Ordnung, nun ſag' mir auch noch, wo wollteſt du denn hin?“ „Ich wollte gewiß nirgends hin“, verſicherte Heidi, „ich bin auch gar nicht ſelbſt hinuntergegangen, ich war nur auf einmal da.“ „So, ſo, und haſt du etwa geträumt in der Nacht, weißt du, ſo, daß du deutlich Etwas ſahſt und hörteſt?“ „Ja, jede Nacht träumt es mir und immer gleich. Dann mein' ich, ich ſei beim Großvater und draußen hör' ich's in den Tannen ſauſen und denke, jetzt glitzern ſo ſchön die Sterne am Himmel und ich laufe geſchwind und mache die Thür auf an der Hütte und da iſt's ſo ſchön! Aber wenn ich erwache, bin ich immer noch in Frankfurt.“ Heidi fing ſchon an zu kämpfen und zu ſchlucken an dem Gewicht, das den Hals hinaufſtieg. „Hm, und thut dir denn auch Nichts weh, nirgends? Nicht im Kopf oder im Rücken?“ „O nein, nur hier drückt es ſo wie ein großer Stein immerfort.“ „So, etwa ſo, wie wenn man Etwas gegeſſen hat und wollte es nachher lieber wieder zurückgeben?“ „Nein, ſo nicht, aber ſo ſchwer, wie wenn man ſtark weinen ſollte.“ „So, ſo, und weinſt du denn ſo recht heraus?“ „O nein, das darf man nicht, Fräulein Rottenmeier hat es verboten.“

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/199>, abgerufen am 23.11.2024.