Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird
das Kind vom Heimweh verzehrt, so daß es schon jetzt fast
zum Geripplein abgemagert ist und es noch völlig werden
würde; also schnelle Hülfe. Für das erste Uebel und die
in hohem Grade stattfindende Nervenaufregung gibt es nur
Ein Heilmittel, nämlich, daß du sofort das Kind in die
heimatliche Bergluft zurückversetzest; für das zweite gibt's
ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz dieselbe, demnach
reist das Kind morgen ab, das ist mein Rezept."

Herr Sesemann war aufgestanden. In größter Auf¬
regung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus:
"Mondsüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem
Hause! das Alles in meinem Hause! und Niemand sieht zu
und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du meinst, das
Kind, das frisch und gesund in mein Haus gekommen ist,
schicke ich elend und abgemagert seinem Großvater zurück?
Nein, Doktor, das kannst du nicht verlangen, das thu' ich
nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die
Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du willst, aber
mach' es mir heil und gesund, dann will ich es heimschicken,
wenn es will, aber erst hilf du!"

"Sesemann", entgegnete der Doktor ernsthaft, "be¬
denke, was du thust! Dieser Zustand ist keine Krankheit,
die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat
keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder
in die kräftige Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt

Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird
das Kind vom Heimweh verzehrt, ſo daß es ſchon jetzt faſt
zum Geripplein abgemagert iſt und es noch völlig werden
würde; alſo ſchnelle Hülfe. Für das erſte Uebel und die
in hohem Grade ſtattfindende Nervenaufregung gibt es nur
Ein Heilmittel, nämlich, daß du ſofort das Kind in die
heimatliche Bergluft zurückverſetzeſt; für das zweite gibt's
ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz dieſelbe, demnach
reiſt das Kind morgen ab, das iſt mein Rezept.“

Herr Seſemann war aufgeſtanden. In größter Auf¬
regung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus:
„Mondſüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem
Hauſe! das Alles in meinem Hauſe! und Niemand ſieht zu
und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du meinſt, das
Kind, das friſch und geſund in mein Haus gekommen iſt,
ſchicke ich elend und abgemagert ſeinem Großvater zurück?
Nein, Doktor, das kannſt du nicht verlangen, das thu' ich
nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die
Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du willſt, aber
mach' es mir heil und geſund, dann will ich es heimſchicken,
wenn es will, aber erſt hilf du!“

„Seſemann“, entgegnete der Doktor ernſthaft, „be¬
denke, was du thuſt! Dieſer Zuſtand iſt keine Krankheit,
die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat
keine zähe Natur, indeſſen, wenn du es jetzt gleich wieder
in die kräftige Bergluft hinaufſchickſt, an die es gewöhnt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0201" n="191"/>
Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird<lb/>
das Kind vom Heimweh verzehrt, &#x017F;o daß es &#x017F;chon jetzt fa&#x017F;t<lb/>
zum Geripplein abgemagert i&#x017F;t und es noch völlig werden<lb/>
würde; al&#x017F;o &#x017F;chnelle Hülfe. Für das er&#x017F;te Uebel und die<lb/>
in hohem Grade &#x017F;tattfindende Nervenaufregung gibt es nur<lb/>
Ein Heilmittel, nämlich, daß du &#x017F;ofort das Kind in die<lb/>
heimatliche Bergluft zurückver&#x017F;etze&#x017F;t; für das zweite gibt's<lb/>
ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz die&#x017F;elbe, demnach<lb/>
rei&#x017F;t das Kind morgen ab, das i&#x017F;t mein Rezept.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Herr Se&#x017F;emann war aufge&#x017F;tanden. In größter Auf¬<lb/>
regung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus:<lb/>
&#x201E;Mond&#x017F;üchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem<lb/>
Hau&#x017F;e! das Alles in meinem Hau&#x017F;e! und Niemand &#x017F;ieht zu<lb/>
und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du mein&#x017F;t, das<lb/>
Kind, das fri&#x017F;ch und ge&#x017F;und in mein Haus gekommen i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;chicke ich elend und abgemagert &#x017F;einem Großvater zurück?<lb/>
Nein, Doktor, das kann&#x017F;t du nicht verlangen, das thu' ich<lb/>
nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die<lb/>
Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du will&#x017F;t, aber<lb/>
mach' es mir heil und ge&#x017F;und, dann will ich es heim&#x017F;chicken,<lb/>
wenn es will, aber er&#x017F;t hilf du!&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Se&#x017F;emann&#x201C;, entgegnete der Doktor ern&#x017F;thaft, &#x201E;be¬<lb/>
denke, was du thu&#x017F;t! Die&#x017F;er Zu&#x017F;tand i&#x017F;t keine Krankheit,<lb/>
die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat<lb/>
keine zähe Natur, inde&#x017F;&#x017F;en, wenn du es jetzt gleich wieder<lb/>
in die kräftige Bergluft hinauf&#x017F;chick&#x017F;t, an die es gewöhnt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0201] Fieber des Schreckens in's Gebein gejagt. Zweitens wird das Kind vom Heimweh verzehrt, ſo daß es ſchon jetzt faſt zum Geripplein abgemagert iſt und es noch völlig werden würde; alſo ſchnelle Hülfe. Für das erſte Uebel und die in hohem Grade ſtattfindende Nervenaufregung gibt es nur Ein Heilmittel, nämlich, daß du ſofort das Kind in die heimatliche Bergluft zurückverſetzeſt; für das zweite gibt's ebenfalls nur Eine Medizin, nämlich ganz dieſelbe, demnach reiſt das Kind morgen ab, das iſt mein Rezept.“ Herr Seſemann war aufgeſtanden. In größter Auf¬ regung lief er das Zimmer auf und ab; jetzt brach er aus: „Mondſüchtig! Krank! Heimweh! Abgemagert in meinem Hauſe! das Alles in meinem Hauſe! und Niemand ſieht zu und weiß Etwas davon! Und du, Doktor, du meinſt, das Kind, das friſch und geſund in mein Haus gekommen iſt, ſchicke ich elend und abgemagert ſeinem Großvater zurück? Nein, Doktor, das kannſt du nicht verlangen, das thu' ich nicht, das werde ich nie thun. Jetzt nimm das Kind in die Hand, mach' Kuren mit ihm, mach' was du willſt, aber mach' es mir heil und geſund, dann will ich es heimſchicken, wenn es will, aber erſt hilf du!“ „Seſemann“, entgegnete der Doktor ernſthaft, „be¬ denke, was du thuſt! Dieſer Zuſtand iſt keine Krankheit, die man mit Pulvern und Pillen heilt. Das Kind hat keine zähe Natur, indeſſen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige Bergluft hinaufſchickſt, an die es gewöhnt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/201
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/201>, abgerufen am 23.11.2024.