Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

dessen Name ihm etwas ungewohnt war --, dazu noch einen
guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes
mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes Be¬
sinnen vor sich gehen.

Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraschung wie in
den Boden eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann
an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die
Mittheilung einer schauerlichen Geistergeschichte machen, die
er in der Nacht erlebt und die sie eben jetzt bei dem hellen
Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; statt dessen diese
völlig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen Aufträge.
So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewältigen.
Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein
Weiteres.

Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn;
er ließ die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem
Zimmer seiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war diese
durch die ungewöhnliche Bewegung im Hause wach geworden
und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe.
Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr
den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und daß Heidi
nach des Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl
nach und nach seine nächtlichen Wanderungen ausdehnen,
vielleicht gar das Dach besteigen würde, was dann mit den
höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also beschlossen,
das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung

13*

deſſen Name ihm etwas ungewohnt war —, dazu noch einen
guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes
mitbringe; es müſſe aber alles ſchnell und ohne langes Be¬
ſinnen vor ſich gehen.

Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraſchung wie in
den Boden eingewurzelt ſtehen und ſtarrte Herrn Seſemann
an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die
Mittheilung einer ſchauerlichen Geiſtergeſchichte machen, die
er in der Nacht erlebt und die ſie eben jetzt bei dem hellen
Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; ſtatt deſſen dieſe
völlig proſaiſchen und dazu noch ſehr unbequemen Aufträge.
So ſchnell konnte ſie das Unerwartete nicht bewältigen.
Sprachlos ſtand ſie immer noch da und erwartete ein
Weiteres.

Aber Herr Seſemann hatte keine Erklärungen im Sinn;
er ließ die Dame ſtehen, wo ſie ſtand, und ging nach dem
Zimmer ſeiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war dieſe
durch die ungewöhnliche Bewegung im Hauſe wach geworden
und lauſchte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe.
Der Vater ſetzte ſich nun an ihr Bett und erzählte ihr
den ganzen Verlauf der Geiſtererſcheinung und daß Heidi
nach des Doktors Ausſpruch ſehr angegriffen ſei und wohl
nach und nach ſeine nächtlichen Wanderungen ausdehnen,
vielleicht gar das Dach beſteigen würde, was dann mit den
höchſten Gefahren verbunden wäre. Er habe alſo beſchloſſen,
das Kind ſofort heimzuſchicken, denn ſolche Verantwortung

13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0205" n="195"/>
de&#x017F;&#x017F;en Name ihm etwas ungewohnt war &#x2014;, dazu noch einen<lb/>
guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes<lb/>
mitbringe; es mü&#x017F;&#x017F;e aber alles &#x017F;chnell und ohne langes Be¬<lb/>
&#x017F;innen vor &#x017F;ich gehen.</p><lb/>
        <p>Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberra&#x017F;chung wie in<lb/>
den Boden eingewurzelt &#x017F;tehen und &#x017F;tarrte Herrn Se&#x017F;emann<lb/>
an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die<lb/>
Mittheilung einer &#x017F;chauerlichen Gei&#x017F;terge&#x017F;chichte machen, die<lb/>
er in der Nacht erlebt und die &#x017F;ie eben jetzt bei dem hellen<lb/>
Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; &#x017F;tatt de&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;e<lb/>
völlig pro&#x017F;ai&#x017F;chen und dazu noch &#x017F;ehr unbequemen Aufträge.<lb/>
So &#x017F;chnell konnte &#x017F;ie das Unerwartete nicht bewältigen.<lb/>
Sprachlos &#x017F;tand &#x017F;ie immer noch da und erwartete ein<lb/>
Weiteres.</p><lb/>
        <p>Aber Herr Se&#x017F;emann hatte keine Erklärungen im Sinn;<lb/>
er ließ die Dame &#x017F;tehen, wo &#x017F;ie &#x017F;tand, und ging nach dem<lb/>
Zimmer &#x017F;einer Tochter. Wie er vermuthet hatte, war die&#x017F;e<lb/>
durch die ungewöhnliche Bewegung im Hau&#x017F;e wach geworden<lb/>
und lau&#x017F;chte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe.<lb/>
Der Vater &#x017F;etzte &#x017F;ich nun an ihr Bett und erzählte ihr<lb/>
den ganzen Verlauf der Gei&#x017F;terer&#x017F;cheinung und daß Heidi<lb/>
nach des Doktors Aus&#x017F;pruch &#x017F;ehr angegriffen &#x017F;ei und wohl<lb/>
nach und nach &#x017F;eine nächtlichen Wanderungen ausdehnen,<lb/>
vielleicht gar das Dach be&#x017F;teigen würde, was dann mit den<lb/>
höch&#x017F;ten Gefahren verbunden wäre. Er habe al&#x017F;o be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
das Kind &#x017F;ofort heimzu&#x017F;chicken, denn &#x017F;olche Verantwortung<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0205] deſſen Name ihm etwas ungewohnt war —, dazu noch einen guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es müſſe aber alles ſchnell und ohne langes Be¬ ſinnen vor ſich gehen. Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraſchung wie in den Boden eingewurzelt ſtehen und ſtarrte Herrn Seſemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mittheilung einer ſchauerlichen Geiſtergeſchichte machen, die er in der Nacht erlebt und die ſie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; ſtatt deſſen dieſe völlig proſaiſchen und dazu noch ſehr unbequemen Aufträge. So ſchnell konnte ſie das Unerwartete nicht bewältigen. Sprachlos ſtand ſie immer noch da und erwartete ein Weiteres. Aber Herr Seſemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame ſtehen, wo ſie ſtand, und ging nach dem Zimmer ſeiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war dieſe durch die ungewöhnliche Bewegung im Hauſe wach geworden und lauſchte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater ſetzte ſich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geiſtererſcheinung und daß Heidi nach des Doktors Ausſpruch ſehr angegriffen ſei und wohl nach und nach ſeine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach beſteigen würde, was dann mit den höchſten Gefahren verbunden wäre. Er habe alſo beſchloſſen, das Kind ſofort heimzuſchicken, denn ſolche Verantwortung 13*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/205
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/205>, abgerufen am 23.11.2024.