Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

und wen der Herrgott vergessen hat, den hat er ver¬
gessen."

"O nein, Großvater, zurück kann Einer, das weiß ich
auch von der Großmama, und dann geht es so wie in der
schönen Geschichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht;
jetzt sind wir aber gleich daheim, und dann wirst du schon
erfahren, wie schön die Geschichte ist."

Heidi strebte in seinem Eifer rascher und rascher die
letzte Steigung hinan -- und kaum waren sie oben ange¬
langt, als es des Großvaters Hand losließ und in die
Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von
seinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem
Koffer hineingestoßen hatte, denn den ganzen Koffer herauf¬
zubringen wäre ihm zu schwer gewesen. Dann setzte er sich
nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei¬
gerannt, sein großes Buch unter dem Arm: "O das ist
recht, Großvater, daß du schon dasitzest", und mit einem
Satz war Heidi an seiner Seite und hatte schon seine
Geschichte aufgeschlagen, denn die hatte es schon so oft und
immer wieder gelesen, daß das Buch von selbst aufging
an dieser Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme
von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf
des Vaters Feldern die schönen Kühe und Schäflein wei¬
deten und er in einem schönen Mäntelchen, auf seinen
Hirtenstab gestützt, bei ihnen auf der Weide stehen und dem
Sonnenuntergang zusehen konnte, wie es Alles auf dem

und wen der Herrgott vergeſſen hat, den hat er ver¬
geſſen.“

„O nein, Großvater, zurück kann Einer, das weiß ich
auch von der Großmama, und dann geht es ſo wie in der
ſchönen Geſchichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht;
jetzt ſind wir aber gleich daheim, und dann wirſt du ſchon
erfahren, wie ſchön die Geſchichte iſt.“

Heidi ſtrebte in ſeinem Eifer raſcher und raſcher die
letzte Steigung hinan — und kaum waren ſie oben ange¬
langt, als es des Großvaters Hand losließ und in die
Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von
ſeinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem
Koffer hineingeſtoßen hatte, denn den ganzen Koffer herauf¬
zubringen wäre ihm zu ſchwer geweſen. Dann ſetzte er ſich
nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei¬
gerannt, ſein großes Buch unter dem Arm: „O das iſt
recht, Großvater, daß du ſchon daſitzeſt“, und mit einem
Satz war Heidi an ſeiner Seite und hatte ſchon ſeine
Geſchichte aufgeſchlagen, denn die hatte es ſchon ſo oft und
immer wieder geleſen, daß das Buch von ſelbſt aufging
an dieſer Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme
von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf
des Vaters Feldern die ſchönen Kühe und Schäflein wei¬
deten und er in einem ſchönen Mäntelchen, auf ſeinen
Hirtenſtab geſtützt, bei ihnen auf der Weide ſtehen und dem
Sonnenuntergang zuſehen konnte, wie es Alles auf dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0238" n="228"/>
und wen der Herrgott verge&#x017F;&#x017F;en hat, den hat er ver¬<lb/>
ge&#x017F;&#x017F;en.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;O nein, Großvater, zurück kann Einer, das weiß ich<lb/>
auch von der Großmama, und dann geht es &#x017F;o wie in der<lb/>
&#x017F;chönen Ge&#x017F;chichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht;<lb/>
jetzt &#x017F;ind wir aber gleich daheim, und dann wir&#x017F;t du &#x017F;chon<lb/>
erfahren, wie &#x017F;chön die Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Heidi &#x017F;trebte in &#x017F;einem Eifer ra&#x017F;cher und ra&#x017F;cher die<lb/>
letzte Steigung hinan &#x2014; und kaum waren &#x017F;ie oben ange¬<lb/>
langt, als es des Großvaters Hand losließ und in die<lb/>
Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von<lb/>
&#x017F;einem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem<lb/>
Koffer hineinge&#x017F;toßen hatte, denn den ganzen Koffer herauf¬<lb/>
zubringen wäre ihm zu &#x017F;chwer gewe&#x017F;en. Dann &#x017F;etzte er &#x017F;ich<lb/>
nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei¬<lb/>
gerannt, &#x017F;ein großes Buch unter dem Arm: &#x201E;O das i&#x017F;t<lb/>
recht, Großvater, daß du &#x017F;chon da&#x017F;itze&#x017F;t&#x201C;, und mit einem<lb/>
Satz war Heidi an &#x017F;einer Seite und hatte &#x017F;chon &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;chichte aufge&#x017F;chlagen, denn die hatte es &#x017F;chon &#x017F;o oft und<lb/>
immer wieder gele&#x017F;en, daß das Buch von &#x017F;elb&#x017F;t aufging<lb/>
an die&#x017F;er Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme<lb/>
von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf<lb/>
des Vaters Feldern die &#x017F;chönen Kühe und Schäflein wei¬<lb/>
deten und er in einem &#x017F;chönen Mäntelchen, auf &#x017F;einen<lb/>
Hirten&#x017F;tab ge&#x017F;tützt, bei ihnen auf der Weide &#x017F;tehen und dem<lb/>
Sonnenuntergang zu&#x017F;ehen konnte, wie es Alles auf dem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0238] und wen der Herrgott vergeſſen hat, den hat er ver¬ geſſen.“ „O nein, Großvater, zurück kann Einer, das weiß ich auch von der Großmama, und dann geht es ſo wie in der ſchönen Geſchichte in meinem Buch, aber die weißt du nicht; jetzt ſind wir aber gleich daheim, und dann wirſt du ſchon erfahren, wie ſchön die Geſchichte iſt.“ Heidi ſtrebte in ſeinem Eifer raſcher und raſcher die letzte Steigung hinan — und kaum waren ſie oben ange¬ langt, als es des Großvaters Hand losließ und in die Hütte hineinrannte. Der Großvater nahm den Korb von ſeinem Rücken, in den er die Hälfte der Sachen aus dem Koffer hineingeſtoßen hatte, denn den ganzen Koffer herauf¬ zubringen wäre ihm zu ſchwer geweſen. Dann ſetzte er ſich nachdenklich auf die Bank nieder. Heidi kam wieder herbei¬ gerannt, ſein großes Buch unter dem Arm: „O das iſt recht, Großvater, daß du ſchon daſitzeſt“, und mit einem Satz war Heidi an ſeiner Seite und hatte ſchon ſeine Geſchichte aufgeſchlagen, denn die hatte es ſchon ſo oft und immer wieder geleſen, daß das Buch von ſelbſt aufging an dieſer Stelle. Jetzt las Heidi mit großer Theilnahme von dem Sohne, der es gut hatte daheim, wo draußen auf des Vaters Feldern die ſchönen Kühe und Schäflein wei¬ deten und er in einem ſchönen Mäntelchen, auf ſeinen Hirtenſtab geſtützt, bei ihnen auf der Weide ſtehen und dem Sonnenuntergang zuſehen konnte, wie es Alles auf dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/238
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/238>, abgerufen am 27.11.2024.