Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Da höhnt er hinunter: Würdet Ihr auseinandergehen und
jedes seinen Weg und auf eine Höhe steigen, wie ich, so wär's
euch wohler!" Der Großvater sagte diese Worte fast wild,
so daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch
eindrücklicher wurde in der Erinnerung.

"Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?"
fragte Heidi wieder.

"Die haben Namen", erwiderte dieser, "und wenn du
mir einen so beschreiben kannst, daß ich ihn kenne, so sage
ich dir, wie es heißt."

Nun beschrieb Heidi den Felsenberg mit den zwei hohen
Thürmen genau so, wie es ihn gesehen hatte, und der Gro߬
vater sagte wohlgefällig: "Recht so, den kenn' ich, der heißt
Falkniß. Hast du noch einen gesehen?"

Nun beschrieb Heidi den Berg mit dem großen Schnee¬
feld, auf dem der ganze Schnee im Feuer gestanden hatte
und dann rosenroth geworden war und dann auf einmal
ganz bleich und erloschen dastand.

"Den erkenn' ich auch", sagte der Großvater, "das ist
der Cäsaplana; so hat es dir gefallen auf der Weide?"

Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie schön
es gewesen und besonders von dem Feuer am Abend, und
nun sollte der Großvater auch sagen, woher es gekommen
war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt.

"Siehst du", erklärte der Großvater, "das macht die
Sonne, wenn sie den Bergen gute Nacht sagt, dann wirft

Kleine Geschichten. III. 4

Da höhnt er hinunter: Würdet Ihr auseinandergehen und
jedes ſeinen Weg und auf eine Höhe ſteigen, wie ich, ſo wär's
euch wohler!“ Der Großvater ſagte dieſe Worte faſt wild,
ſo daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch
eindrücklicher wurde in der Erinnerung.

„Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?“
fragte Heidi wieder.

„Die haben Namen“, erwiderte dieſer, „und wenn du
mir einen ſo beſchreiben kannſt, daß ich ihn kenne, ſo ſage
ich dir, wie es heißt.“

Nun beſchrieb Heidi den Felſenberg mit den zwei hohen
Thürmen genau ſo, wie es ihn geſehen hatte, und der Gro߬
vater ſagte wohlgefällig: „Recht ſo, den kenn' ich, der heißt
Falkniß. Haſt du noch einen geſehen?“

Nun beſchrieb Heidi den Berg mit dem großen Schnee¬
feld, auf dem der ganze Schnee im Feuer geſtanden hatte
und dann roſenroth geworden war und dann auf einmal
ganz bleich und erloſchen daſtand.

„Den erkenn' ich auch“, ſagte der Großvater, „das iſt
der Cäſaplana; ſo hat es dir gefallen auf der Weide?“

Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie ſchön
es geweſen und beſonders von dem Feuer am Abend, und
nun ſollte der Großvater auch ſagen, woher es gekommen
war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt.

„Siehſt du“, erklärte der Großvater, „das macht die
Sonne, wenn ſie den Bergen gute Nacht ſagt, dann wirft

Kleine Geſchichten. III. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0059" n="49"/>
Da höhnt er hinunter: Würdet Ihr auseinandergehen und<lb/>
jedes &#x017F;einen Weg und auf eine Höhe &#x017F;teigen, wie ich, &#x017F;o wär's<lb/>
euch wohler!&#x201C; Der Großvater &#x017F;agte die&#x017F;e Worte fa&#x017F;t wild,<lb/>
&#x017F;o daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch<lb/>
eindrücklicher wurde in der Erinnerung.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?&#x201C;<lb/>
fragte Heidi wieder.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Die haben Namen&#x201C;, erwiderte die&#x017F;er, &#x201E;und wenn du<lb/>
mir einen &#x017F;o be&#x017F;chreiben kann&#x017F;t, daß ich ihn kenne, &#x017F;o &#x017F;age<lb/>
ich dir, wie es heißt.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Nun be&#x017F;chrieb Heidi den Fel&#x017F;enberg mit den zwei hohen<lb/>
Thürmen genau &#x017F;o, wie es ihn ge&#x017F;ehen hatte, und der Gro߬<lb/>
vater &#x017F;agte wohlgefällig: &#x201E;Recht &#x017F;o, den kenn' ich, der heißt<lb/>
Falkniß. Ha&#x017F;t du noch einen ge&#x017F;ehen?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Nun be&#x017F;chrieb Heidi den Berg mit dem großen Schnee¬<lb/>
feld, auf dem der ganze Schnee im Feuer ge&#x017F;tanden hatte<lb/>
und dann ro&#x017F;enroth geworden war und dann auf einmal<lb/>
ganz bleich und erlo&#x017F;chen da&#x017F;tand.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Den erkenn' ich auch&#x201C;, &#x017F;agte der Großvater, &#x201E;das i&#x017F;t<lb/>
der Cä&#x017F;aplana; &#x017F;o hat es dir gefallen auf der Weide?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie &#x017F;chön<lb/>
es gewe&#x017F;en und be&#x017F;onders von dem Feuer am Abend, und<lb/>
nun &#x017F;ollte der Großvater auch &#x017F;agen, woher es gekommen<lb/>
war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Sieh&#x017F;t du&#x201C;, erklärte der Großvater, &#x201E;das macht die<lb/>
Sonne, wenn &#x017F;ie den Bergen gute Nacht &#x017F;agt, dann wirft<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Kleine Ge&#x017F;chichten. <hi rendition="#aq">III</hi>. 4<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0059] Da höhnt er hinunter: Würdet Ihr auseinandergehen und jedes ſeinen Weg und auf eine Höhe ſteigen, wie ich, ſo wär's euch wohler!“ Der Großvater ſagte dieſe Worte faſt wild, ſo daß dem Heidi das Gekrächz des Raubvogels dadurch noch eindrücklicher wurde in der Erinnerung. „Warum haben die Berge keine Namen, Großvater?“ fragte Heidi wieder. „Die haben Namen“, erwiderte dieſer, „und wenn du mir einen ſo beſchreiben kannſt, daß ich ihn kenne, ſo ſage ich dir, wie es heißt.“ Nun beſchrieb Heidi den Felſenberg mit den zwei hohen Thürmen genau ſo, wie es ihn geſehen hatte, und der Gro߬ vater ſagte wohlgefällig: „Recht ſo, den kenn' ich, der heißt Falkniß. Haſt du noch einen geſehen?“ Nun beſchrieb Heidi den Berg mit dem großen Schnee¬ feld, auf dem der ganze Schnee im Feuer geſtanden hatte und dann roſenroth geworden war und dann auf einmal ganz bleich und erloſchen daſtand. „Den erkenn' ich auch“, ſagte der Großvater, „das iſt der Cäſaplana; ſo hat es dir gefallen auf der Weide?“ Nun erzählte Heidi Alles vom ganzen Tage, wie ſchön es geweſen und beſonders von dem Feuer am Abend, und nun ſollte der Großvater auch ſagen, woher es gekommen war, denn der Peter hatte Nichts davon gewußt. „Siehſt du“, erklärte der Großvater, „das macht die Sonne, wenn ſie den Bergen gute Nacht ſagt, dann wirft Kleine Geſchichten. III. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/59
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/59>, abgerufen am 23.11.2024.